26/09/2010von 490 Views – 1 Kommentar

Ecce homo

„Sie werden sehen“, hab ich vor Jahren zu meinem Boss in einer Kulturredaktion gesagt, „in ein paar Jahren ziehen wir uns um 16.30 Uhr rote Jacken an, stellen uns an eine Kreuzung und rufen ,Krone! Kurier!‘“

Wir mussten nämlich damals schon immer mehr Dinge tun, die nichts mit unserer eigentlichen Aufgabe zu tun hatten: Layouten zum Beispiel. Die Layouter sollten abgebaut werden und wir sollten sie sukzessive ersetzen (– mehr dazu hier).

Lachhaft

Was haben wir geschmunzelt, der Endler und ich. – Wie lachhaft ist mein „Sie werden sehen –“ aus heutiger Sicht, wo ich vor lauter (großteils mühsamen) CMS-Systemen, Bildbearbeitung (und neuerdings Social Networking) immer weniger dazu komme, zu recherchieren und zu schreiben.

Eine Art Volksfest

Und vor Kurzem hab ich gewissermaßen tatsächlich den „Kurier“ verkauft. Die Redakteure eines Verlages standen auf einer Art Volksfest in einer Art Infostand, verteilten die Gratis-Zeitungen, für die sie arbeiten, und machten den PassantInnen das Angebot, einem Club beizutreten, in dem man nur Vorteile hat (– wirklich! Ich bin selbst dabei).

Es gab auch kleine Präsente – aber nur für jene Menschen, die diesem Club beitraten. Und diese Präsente mussten gegen diejenigen verteidigt werden, die sie bloß haben wollten, ohne Mitglieder zu werden.

HABEN

Sie belagern dich mit nach vorne gestreckten Armen, meist leicht geöffnetem Mund und aus ihren Augen spricht nichts als „WILL HABEN“. Es gibt etwas umsonst und sie können nicht überlegen, ob sie das auch brauchen, sie wollen es einstecken, mitnehmen, am liebsten viel davon, so viel wie möglich.

Es war erbärmlich. Ich sah lauter Menschen vor mir, denen das Leben etwas versagt zu haben scheint, und die diese Leere nun mit etwas auffüllen müssen, mit irgendetwas, und sei es Plunder. Und ich war der Böse, der ihnen sogar das versagen musste. Damit nicht genug: wenn ich ehrlich bin, fand ich mich in dieser Meute widergespiegelt, wie ich mich selbst in Geschäften aufführe, wenn es etwas umsonst (oder vielleicht auch bloß billiger) gibt.

Erledigt

Jedenfalls war ich nach diesem – insgesamt sieben Stunden dauernden – Job so erledigt, dass ich im Kino nicht neben Menschen sitzen konnte. In meiner Fantasie wollten die alle immer noch bloß HABEN-HABEN-HABEN.

Am nächsten Tag, immer noch angeschlagen, überlegte ich, ob es VerkäuferInnen nicht tagaus tagein so ergeht. Allerdings, sagte ich mir, haben die in der Regel nichts zu verschenken.

Dann erinnerte ich mich an jene Szene mit dem Endler, und ich fragte mich, ob mein Volksfest-Job denn nicht an die gute alte HandwerkerInnen-Tradition anknüpfe, ein selbst hergestelltes Produkt persönlich an Mann und Frau zu bringen.

Im Gegenwert von

Doch die Leute gierten ja nicht nach unseren Zeitungen, sondern nach dem, was sie nicht umsonst bekommen konnten. Sie wollten Bücher, die sie wahrscheinlich nie lesen werden, sie wollten Kappen, die sie nach dem Volksfest wahrscheinlich weggesteckt oder weggeworfen haben, sie wollten Lineale mit Lupe im Gegenwert von vielleicht 20 Cent – und sie wollten nicht eines, sondern viele, ALLE. Wenn man nicht hinsah, nahmen sie sich das alles auch.

Ich sag‘s euch: lieber hätte ich euch letztes Wochenende den „Kurier“ verkauft. Für 1,20 Euro hättet ihr ihn haben können.


1 Kommentar zu "Ecce homo"

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  1. eva sagt:

    ach du armer! jetzt erst versteh ich!

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Literaturmagazin Eselsohren – 

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