Lesezeit
Seltsam, einerseits wird mit Zahlen belegt, dass es dem Buchhandel in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zumindest nicht schlecht ergeht, und zumindest dem Anschein nach sind Buchläden meist besser besucht als die Bekleidungsshops daneben, aber dann stehst du im Zug von Frankfurt nach Amsterdam und siehst kaum jemanden, der ein Buch liest.
Links von dir sitzen zwei Männer, die auf eine Tagung fahren. Der eine spielt sich, wenn er nicht gerade döst, auf seinem iPhone und siegt mehrmals im Backgammon. Der andere hat seinen Laptop vor sich stehen und spielt entweder eine Patience oder checkt seine E-Mails oder überarbeitet einen Text oder surft ein bisschen rum.
Dahinter spielt eine Familie real Karten, rechts davon hat von zehn Leuten einer tatsächlich ein Buch in der Hand, aber es gelingt dir nicht, den Titel zu erspähen.
Das ist für dich nicht so recht zu fassen. Du nämlich nützt jede sich bietende Gelegenheit. Wenn du zu deinem Arbeitgeber im 11. Bezirk unterwegs bist, fährst du nicht mit der U-Bahn, weil die dermaßen überfüllt ist, dass du kein Buch in der Hand halten kannst.
Du nimmst den Autobus und hoffst, dass genügend Menschen aussteigen, damit du einen Sitzplatz bekommst. Buch raus, Lesebrille rauf. Du fährst nicht zur direkten Umsteige-Haltestelle in den Anschlussbus, sondern gehst ein Stück zur Anfangsstation desselben, damit du wiederum einen Sitzplatz ergatterst.
Das bringt dir etwa 25 Minuten Lesezeit, mit Retourfahrt also 50.
Und im Zug nach Amsterdam holst du, kaum werden in Köln ein paar Sitzplätze frei, gleich zwei Bücher hervor: Den Städteführer und Jan Faktors „Georgs Sorgen“.
Selbstverständlich sprichst du auch mit deiner Frau. Wenn die nicht gerade ebenfalls lesen möchte.