02/04/2013von 879 Views – 0 Kommentare

Wessely, Martin: bipolar

Die Verteidigung der Mitte

Roman
Hardcover
168 Seiten
Erschienen 2012 bei Ch. Schroer

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Inhalt:

Hausmeister Böttcher hat alle Hände voll zu tun. Abflüsse. Rost. Vandalismus. Seine freundlichen Gegner am Ende der Versorgungstunnel bleiben unsichtbar. Auch ohne sie gibt es genug Überraschungen an diesem seltsamen Ort in der Höhe, wo alles und jeder ihn auf die Probe stellt, seinen Verstand verwirrt und schlimmer noch: seinen Dienstplan in Frage stellt. Eine sprechende Ameise ist sein kleinstes Problem. Es geht um mehr, als die Verteidigung der Hausordnung. Hier steht etwas Großes auf dem Spiel, und nur ein pflichtbewusster Mann wie Böttcher kann den Job erledigen. (Pressetext)

Kurzkritik:

Martin Wessely beschreibt in seinem Romandebüt eine bipolare Existenz zwischen Hausmeisterjob und Literatentraum auf dem Weg zu sich selbst. Ein schwieriger, aber sehr lesenswerter Roman um die Frage, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen.

Daniel gibt  ★★★★¼  (4,25 von 5 Eselsohren)

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Besprechung:

Gemischte Episoden, jenseits des Normalniveaus

Martin Wessely beschreibt in seinem Romandebüt eine bipolare Existenz zwischen Hausmeisterjob und Literatentraum auf dem Weg zu sich selbst. Ein schwieriger, aber sehr lesenswerter Roman um die Frage, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen.

Martin Wesselys Protagonist heißt Böttcher. Er arbeitet als Hausmeister in einer Wohnanlage, die nur in Blocks benannt ist und irgendwo zwischen Verfall und Futurismus liegt. Er steigt jeden Morgen in seine Einmal-Latzhose und erledigt die üblichen Hausmeistertätigkeiten, kümmert sich um das störende Brummen in der Wohnung der Familie Schäfer in Block 3, macht bei Heinemanns die verstopfen Abflüsse wieder frei, mäht den Rasen, streicht Zäune und repariert defekte Generatoren. Abends daheim ernährt er sich von prozessorgenerierter Kunstnahrung und chattet sich durch unzählige Kanäle, bevor er in einen unruhigen Schlaf fällt, in dem seine Träume ihn einholen.

„Warum ausgerechnet du?“

In den Begegnungen mit „dem“ Chinesen erschließt sich dem Leser, dass Böttcher noch eine andere Seite hat: Er schreibt. Die Kritik des Chinesen an seiner Literatur ist harsch:

Es ist zu wenig, nur zu beschreiben, was Du siehst. Sie sehen das auch. Du musst etwas hinzufügen, sonst reicht es nicht. So viele sind unterwegs, warum solltest du den Weg zurück finden, warum ausgerechnet du? Was treibt dich an? Ist es wahrhaftig dein größter Wunsch? Kannst du nicht leben ohne das, junger Dichter?

Sechsunddreißig Sorten Meerrettich

Ein paar Seiten später dann Literatur aus der Feder Böttchers:

Bestürmt von wüsten Meinungsgewittern wissen wir nicht mehr auszuwählen, stehen in einem Moment vor einer Auswahl von sechsunddreißig verschiedenen Sorten Meerrettich, im nächsten sind die Erinnerungen an die zwei Wochen vorfinanzierten Südsee-Urlaub längst verblasst, während wir an den Ratenzahlungen ersticken und das plötzliche Funkrauschen kabelloser Geräte und ihrer wunderbaren Anwendungsmöglichkeiten die Instinkte übertönt, die uns Jahrtausende lang geleitet haben. Streit und Missgunst werden über alle Kontinente gehandelt – der Markt erfordert hohe Eingangsinvestitionen, aber wer entschlossen handelt, sichert die Grundlagen für lukrative Verschwendung, die den Pöbel friedlich hält und kontrolliert zugleich das explosive Potential zorniger junger Männer, die den ungestörten Ablauf der heimlichen feste an den Nordseestränden gefährden könnten.

Was die Kröte rät

Diese Assoziationsketten ziehen sich in einem manischen Stil über mehrere Seiten hinweg, springen von Thema zu Thema, wirken wirr, zerfasert und es wird deutlich, dass Böttcher ein manischer Autor ist. Dieses Bild zementiert sich, als er später eine Kröte und eine Ameise trifft, mit denen er redet, die er versteht. Die Kröte rät ihm:

Nein, du selbst musst es fühlen, dich prüfen, peinlich und gründlich darauf, was dir wichtig ist, was dir nützt, was du willst und wer du bist. Dann streiche all das von deiner Liste, wirf sie weg und erkenne deine Bedeutungslosigkeit. Dann beginnt das Verstehen.

Ein sprechender Bienenschwarm

Später trifft er eine leuchtende Kugel und einen sprechenden Bienenschwarm, der wie eine unfähige Volksmasse auf der Suche nach einem Führer wirkt. All das scheinen Imaginationen Böttchers auf der Suche nach sich selbst zu sein.
Parallel zu seinem deprimierenden Arbeitsalltag sowie den Begegnungen und seinen manischen Episoden, macht Böttcher eine entscheidende persönliche Entwicklung durch, welche bereits im ersten Absatz des Romans als Idee angedeutet wird:

Im Renault Rapid kann man notfalls auch wohnen. Das ist das Gute daran, selbst wenn man kein Haus mehr hat, keine Wohnung, kein Geld und aber den Renault, dann ist man fein raus. Das beruhigt ungemein.

In einer rollenden Hutschachtel wohnen

Der Renault Rapid ist Böttchers Dienstfahrzeug. Dabei handelt es sich um einen Kleintransporter, der technisch auf der zweiten Generation des Renault 5 basierte, sich aber um einen um 15 cm verlängerten Radstand, sowie einen Kastenaufbau hinter der B-Säule auszeichnet. Und so schwer es fällt, sich das vorzustellen, in so einer rollenden Hutschachtel zu wohnen, wird im Verlauf des Romans immer deutlicher, dass es Böttcher damit todernst ist; ernst mit einer möglichen Flucht aus der Lohnsklaverei hin zu einer selbstbestimmten Existenz in einer automatisierten Welt und degenerierten Gesellschaft, hin zur Verteidigung seiner eigenen Mitte, jenseits von beruflicher Depression und manischen Schreibphasen. Böttcher macht sich auf seine Art und Weise auf den Weg …

In gesichtslosen Wohnblocks vegetieren

Die Welt, in die uns Martin Wessely in seinem Debütroman „bipolar. Die Verteidigung der Mitte“ mitnimmt, ist eine triste Dystopie: Durch den sogenannten Fortschritt der computerisierten Ernährung ist den Menschen jedes Genussempfinden abhanden gekommen und sie vegetieren in gesichtslosen Wohnblocks in einer entmenschlichten Art, welche die düsteren Bilder von Filmen wie Metropolis heraufbeschwört.

Quälend und zärtlich

So übel, wie diese Tristesse den Leser anspringt und geeignet ist, ihn zu deprimieren, so mehr schlägt Böttchers eigener, allzu menschlicher Weg ihn in den Bann. Böttchers Beharren auf einem alternativen Weg, seine Fragen und sein Schreiben sind seine Verteidigung der Mitte. „bipolar“ ist keine leichte Kost, streckenweise quälend aufgrund des zutiefst pessimistischen Zukunftsbildes und dann doch wieder immer wieder von unendlicher Zärtlichkeit in Böttchers menschlichen Begegnungen und seiner persönlichen Entwicklung.

Die Mitte mit allen Mitteln verteidigen

Wer „biopolar“ genau liest, wird feststellen, dass Martin Wessely damit auf bedenkliche Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam macht und vor den möglichen Folgen warnt. Böttcher ist darin das Individuum, das seine Individualität noch nicht verloren und daher die Möglichkeit hat, für sich persönlich noch einmal ganz neu anzufangen.

Ein zutiefst humanistischer und sehr lesenswerter Roman, der Mut macht, in einer Zeit der zunehmenden Virtualisierung der Welt trotzdem immer noch auf sein eigenes real pochendes Herz zu hören und seine eigene Mitte mit allen Mitteln vehement zu verteidigen.

Von Daniel Kasselmann

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Infos:

Martin Wessely, Jahrgang 1971, studierte nach dem Abitur in Bensberg zunächst Betriebswirtschaftslehre und war in den letzten Jahren in verschiedenen Positionen im internationalen Dienstleistungsmarketing tätig. Über den beruflichen Umgang mit Sprache hat er seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckt. Bipolar ist seine erste Veröffentlichung. Er lebt und arbeitet in Köln.

Mehr über Martin Wessely bei www.martinwessely.de.

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Literaturmagazin Eselsohren – 

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