Zwischen zweyen burgen
Liebe LeserInnen,
ich lese gerne Gedichte, am liebsten morgens vor dem Frühstück oder vor Arbeitsbeginn. Früher hätte ich die Aussage unterschrieben, „viele empfinden Gedichtinterpretationen als ein Breittreten und Zerschwatzen von etwas, das man viel besser ohne Worte auf sich wirken lassen sollte.“
Doch rund um Weihnachten hatte ich einen Theorie-Schub. Das äußerte sich in massiven Reclam-Buchkäufen: „Grundkurs Literaturwissenschaft“, „Literaturtheorie“, „Stilistik“ etc.
„Wie interpretiert man ein Gedicht?“ besaß ich schon, hatte es aber nie gelesen. Dort fand ich jetzt den Satz, der „Verlust an undifferenzierter Spontaneität wird mehr als aufgewogen durch den Gewinn an differenzierter Wahrnehmung.“
Das könnte stimmen, sagte ich mir, und arbeitete mich nicht durch nur Hans-Dieter Gelferts Buch, sondern bestellte mir auch die sieben Bände „Gedichte und Interpretationen“. Ich bestellte nicht nur, sondern bin schon bei Band Zwei, Aufklärung und Sturm und Drang.
Ich habe viel gelernt. Dass etwa nicht nur die italienischen Humanisten das Deutsche für eine barbarische Sprache hielten, sondern dass auch die Deutschen selbst ähnlich dachten. Dass sich Opitz („Buch von der Deutschen Poeterey“) eher an der neulateinischen Dichtung orientierte, als an den Meistersingern. Dass man die deutsche Sprache auch versteht, wenn sie seltsam geschrieben wird:
Zwischen zweyen burgen
da ist ein tieffer See;
auff der einen burge
da sitzet ein edler Herr.
Auff der andern burge
da wohnt ein Junckfraw fein;
sie weren gern zusammen,
ach Gott, möcht es gesein!
Grundsätzlich weiß ich nun, dass man ein Gedicht nicht deshalb ablehnen sollte, nur weil man gerade nichts damit anfängt. Über die meisten Werke kann man sogar mindestens fünf Reclam-Seiten schreiben! Das hat mit Gefallen noch nichts zu tun. Das erhellt vorderhand nur, wer wann wo was wie und warum geschrieben hat.
Ich bin schon sehr gespannt auf die Bände Sechs und Sieben, Gegenwart. Eigentlich wollte ich mit denen gleich anfangen. Aber dann dachte ich, es würde sich auszahlen, zu wissen, woher das kommt und worauf das Bezug nimmt.
Einen neuen Lieblings-Dichter habe ich bisher zwar noch nicht entdeckt, aber ich verspreche, keine solchen Besprechungen wie diese mehr zu schreiben.
Werner Schuster
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„Gedichte und Interpretationen“ ist erhältlich bei Amazon als Taschenbuch.
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