31/01/2013von 1.859 Views – 0 Kommentare

Köhlmeier, Michael: Die Abenteuer des Joel Spazierer

Roman
Hardcover
652 Seiten
Erschienen 2013 bei Hanser

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Inhalt:

„Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden.“ Joel Spazierer, geboren 1949 in Budapest, wächst bei seinen Großeltern auf und ist vier Jahre alt, als sie von Stalins Schergen abgeholt werden. Fünf Tage und vier Nächte verbringt er allein in der Wohnung und lernt eine Welt ohne Menschen kennen. Es fehlt ihm an nichts, er ist zufrieden. Joel Spazierer lernt nie, was gut und was böse ist. Sein Aussehen, sein Charme, seine Freundlichkeit öffnen ihm jedes Herz. Er lügt, stiehlt und mordet, ändert seinen Namen und seine Identität und betreibt seine kriminelle Karriere in vielen europäischen Ländern. Die Geschichte, die er uns ganz unschuldig erzählt, ist ein Schelmenroman über die Nachtseiten unserer Gesellschaft. (Pressetext)

Kurzkritik:

Wer ist Joel Spazierer? Und warum erzählt er mir lang und breit sein halbes 20. Jahrhundert? – Diesen Roman zu lesen, hat mir zwar Vergnügen bereitet, aber schlau bin ich aus ihm nicht geworden.

Werner gibt  ★★★½☆  (3,5 von 5 Eselsohren)

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Besprechung:

Titel

Wer ist Joel Spazierer? Und warum erzählt er mir lang und breit sein halbes 20. Jahrhundert? – Diesen Roman zu lesen, hat mir zwar Vergnügen bereitet, aber schlau bin ich aus ihm nicht geworden.

Köhlmeier lässt einen seltsamen Menschen von seinem wahrlich abenteuerlichen Leben berichten. Diesem Joel Spazierer stellt er den aus „Abendland“ und „Madalyn“ bekannten Schriftsteller Sebastian Lukasser (d.i. Köhlmeiers Alter ego) zur Seite. Durch diese Konstellation gewährt uns der Autor Einblick in das Handwerk des Schreibens, dadurch bekommt sein Roman stellenweise etwas Selbstreflektierendes, Künstliches.

Das macht nichts, denn Spazierer ist selbst eine Kunstfigur – in mehrerlei Hinsicht. Zum einen wechselt er oftmals Namen und Identität, zum anderen glaube ich nicht, das es jemanden wie Spazierer tatsächlich geben könnte. Das muss es auch nicht, weist Köhlmeier/Spazierer doch darauf hin, dass wir es mit einem Schelmenroman zu tun haben. Solche Schelme sind in der Regel ungebildet, aber „bauernschlau“. Sie durchlaufen alle gesellschaftlichen Schichten und werden zu deren Spiegel.

Lügen und Rollenspiele

Spazierer ist auch als Spiegel von (Ost-)Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angelegt. Er kommt in Ungarn zur Welt. Seine Familie flüchtet vor der Staatssicherheit noch vor dem Ungarnaufstand 1956 nach Österreich und schlägt sich durch. Als der Flüchtlingsstrom einsetzt, fingieren sie eine zweite Flucht, um in den Genuss der Vorteile zu kommen, die den Ungarn damals zuteil wurden. Gleichzeitig fälschen sie ihre Personaldaten, geben sich z.B. akademische Titel.

Damit ist auch ein Thema des Romans angerissen: Lügen in vielen Facetten. Dies verbindet Köhlmeier mit einem anderen Thema: Rollen. So wie sich Spazierer immer wieder neue Namen (und somit eine neue Existenz) gibt, so ist er fähig, alle möglichen Rollen anzunehmen: Vom Strichjungen über den Musterschüler, den Liebling des Gefängniszellen-Chefs, den Verlobten einer reichen Italiernerin (er wird kurz vor der Hochzeit von seiner Vergangenheit eingeholt), den Wissenschaftler und den Einkommens- und Wohnungslosen am Schluss.

Vorteilhaft

Spazierer ist beliebt. Er ist es, weil er sich anderen bewusst als Projektionsfläche zur Verfügung stellt. Wer ihn etwas fragt, wird sich die Antwort selbst geben, – und Spazierer reagiert entsprechend darauf. Dadurch wirkt er sympathisch, doch er lebt nur zu seinem eigenen Vorteil. Das schließt ein, dass er stiehlt, erpresst, fälscht, hochstapelt und auch mordet, wenn es ihm denn nützlich ist.

Er hat damit kein Problem, ist mit sich stets im Reinen. Er erwartet nicht viel vom Leben und ist zufrieden mit dem, was ihm in den Schoß fällt oder was er erreicht. Er erreicht viel, doch das Erreichte zerrinnt ihm stets wieder zwischen den Fingern. Oftmals wird er auf seine schiere Existenz zurückgeworfen.

Wien – Oostende – Wien

Als Kind wird er in Wien von einem ungarischen Geheimdienst-Mann auf der Flucht gekidnappt, der nach Amerika auswandern will und Spazierer bis nach Oostende mitnimmt. Von dort schlägt sich unser „Held“ zu Fuß zurück nach Wien, begegnet unterwegs einem desertierten US-Soldaten, der ihm auf der Straße und im Wald zu überleben hilft.

Von hier geht es mit der Familie nach Vorarlberg weiter (wo er die Schule besucht und Lukasser erstmals begegnet), in Gefängnisse in der Schweiz und Österreich (wo er Automechaniker lernt), wieder nach Wien (wo er Portier in einem Studentenheim und Dealer wird), in die DDR (wo er sich als Sohn einer DDR-Ikone ausgibt und Professor wird) und schließlich wieder nach Wien zurück (wo er eher ein Hungerdasein führt, bei Lukasser wohnen darf – und seinen Lebensroman schreibt).

Kalter Entzug

Das mag sich hier etwas wirr lesen, – bei Köhlmeier ist es das nicht. Der Roman ist sogar noch reicher an Personen und Geschehnissen, als sich hier skizzieren lässt.

Man denke etwa an diese Handlungslinie: Spazierer hat jener Frau, die er wenig später ermorden wird (weil sie ihn beim Einbrechen in ihre Wohnung erwischt hat), versprochen, sich um ihre Tochter zu kümmern (die ihn nicht leiden kann). Dieser Tochter begegnet er nach seiner Haft zufallig wieder. Sie ist heroinabhängig, er steht ihr bei einem kalten Entzug bei – und bringt diejenigen um, die ihr anschließend wieder Heroin verkaufen. Später wird er mit ihr – die ihn die ganze Zeit nicht wiedererkennt – nach Mexiko fahren, wo sie glaubt, sich endgültig von ihrer Sucht befreien zu können.

Doch wer ist Joel Spazierer?

Es ist ein für mich überraschender Zug an Spazierer, dass er gerade dieses Versprechen nicht bricht. Wichtig ist für ihn auch die Freundschaft mit Lukasser – eine der wenigen Romanfiguren, die er nicht (oder kaum) hintergeht. Sonst denkt er stets nur an sich.

Doch wer ist Joel Spazierer? Bis auf ihn haben alle Figuren klar zugewiesene Eigenschaften. Nur er ist nicht zu fassen. Würde der Roman aus der Perspektive der anderen Figuren geschrieben sein, so würde man wahrscheinlich eine enorme Bandbreite an „Spazierern“ vorfinden, von denen viele nicht zueinander passen würden und bei denen kaum ein kleinster gemeinsamer Nenner zu finden wäre.

Ein „Zelig“?

Spazierer hat etwas von Woody Allens „Zelig“, bei dem vor lauter gespielten Rollen auch keine Person mehr übrigbleibt. Doch hat sich Zelig angepasst, um geliebt zu werden, während Spazierer dies tut, um den jeweiligen Umständen entsprechend zu (über-)leben.

In der ersten Hälfte des Romans dachte ich, wie gesagt, dieser sei eine Abhandlung über das Lügen. In der zweiten war Spazierers Lügen für mich schon selbstverständlich geworden, es überraschte mich nicht mehr, dass und wie er es tat. Und dann habe ich darauf gewartet, was mir Köhlmeier außer Geschichten aus dem letzten Jahrhundert noch erzählen wollte. Ich bin nicht draufgekommen.

Bruchstückhaft

Dass wir alle Rollen spielen und diesbezüglich Fahnen im Wind sind, wäre zu banal. Dass von den Figuren immer wieder religöse und philosophische Fragen erörtert werden, macht den Roman noch nicht zu einem religiösen oder philosophischen, sondern ist höchstens ein Teilaspekt.

Dass der Roman das Zeitalter des Kalten Krieges einfängt, würde ich nicht behaupten: Spazierers Existenzen und die Menschen, denen er begegnet, sind nicht unbedingt typisch für die Zeiten, in denen sie auftreten. Und die geschichtlichen Ereignisse sind auch zu bruchstückhaft wiedergegeben, als dass sie ein rundes, informatives Bild ergeben würden. Dieses Bruchstückhafte findet allerdings keine Entsprechung in der Erzählweise: Wenn auch zum Teil auseinandergerissen, so wird doch Geschichte um Geschichte breit und voller Fabulierlust ausgewälzt.

Stiehlt sich aus dem Roman

Bleibt also eine „multiple“ Persönlichkeit, die Fragmente eines halben Jahrhunderts beschreibt. Dass Köhlmeier dies einen „Laien“ tun lässt, der seines Stoffes nicht immer Herr wird, ist zwar ein netter Kunstgriff, doch leider findet Köhlmeier/Spazierer zu keinem befriedigenden Schluss. Im letzten Kapitel, das nicht mehr als 3,5 Zeilen lang ist, stiehlt sich die Hauptfigur nach 652 Seiten aus dem Roman, ohne Lebewohl zu sagen – oder verraten zu haben, warum sie uns dies alles eigentlich berichtet hat.

Kurz gesagt: Den Roman zu lesen, hat mir zwar Vergnügen bereitet, aber schlau bin ich aus ihm nicht geworden.

Von Werner Schuster

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Infos:

Michael Köhlmeier, geboren 1949, wuchs in Hohenems/Vorarlberg auf, wo er auch heute lebt. Für sein Werk wurde der österreichische Bestsellerautor unter anderem mit dem Manes-Sperber-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Grimmelshausen-Preis ausgezeichnet.

Interview mit Köhlmeier im HVB-Anzeiger (2009).

Mehr über Michael Köhlmeier bei Wikipedia.

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Literaturmagazin Eselsohren – 

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