01/06/2007von 944 Views – 0 Kommentare

Vladimir Vertlib: Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur

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Cover Vertlib Rosa MasurRoman
Deuticke (2001), dtv
Inhalt:

Über neunzig Jahre alt ist Rosa Masur, als sie für ein Jubiläumsbuch, das anläßlich der 750-Jahr-Feier der deutschen Stadt Gigricht erscheint, aus ihrem Leben erzählen soll. Erst wenige Monate zuvor ist sie mit Sohn Kostik und Schwiegertochter Frieda aus Russland ausgewandert; da kommt das Honorar für die Mitarbeit an dem Buch gerade recht. (Pressetext)

Kurzkritik:

Unwillig verabschiedet man sich von Rosa Masur, einer Frau, die man gerne persönlich kennengelernt hätte, verabschiedet sich von einem Roman, der dramaturgisch und stilistisch im Prinzip auch so alt sein könnte wie seine Protagonistin und dessen Inhalt bei aller pointenreichen Raffinesse wahrhaftig anmutet.

Werner gibt  ★★★★☆  (4 von 5 Eselsohren)

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Besprechung:

Mit Stalin schlafen

Vladimir Vertlibs packender Roman über die russisch-jüdische Emigrantin Rosa Masur verleitet sehr dazu, deren Erinnerungen für bare Münze zu nehmen. Schließlich weiß der 1966 geborene Autor offensichtlich, wovon er spricht: Er ist in Leningrad aufgewachsen, wo seine Protagonistin die meisten Jahre ihres Lebens verbringt, und hat wie sie die Heimat verlassen. Außerdem hat er schon in seiner Erzählung „Abschiebung“ und in seinem Roman „Zwischenstation“ Autobiographisches verarbeitet.

In „Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur“ erhält die über 90-jährige, erst vor kurzem nach Gigricht in Deutschland ausgewanderte Titelfigur die Möglichkeit, für das Jahrbuch zur 750-Jahr-Feier der Stadt aus ihrem Leben zu erzählen. – Dieses Setting verleiht dem Roman einen authentischen Zug, und man hat bis kurz vor Ende wenig Anlass, die Berichte der Rosa Masur als unglaubwürdig anzusehen.

Das Grölen des Mobs

Wie diese nach einem Leben voller Entbehrungen und Verfolgung in einem korrupten System mit ihrem bescheidenen Wohlstand im Westen umzugehen versucht, ist nur ein Seitenthema des Romans, der hauptsächlich vom Leben der Juden im ehemaligen Ostblock handelt. Folgerichtig beginnen Rosas Erinnerungen mit dem Grölen des Mobs und den Hilfeschreien der Juden in der weißrussischen Kleinstadt Witschi im Jahre 1910. Ihre Schwester Mirijam emigriert nach Kanada, und als ihr die ohnedies verarmte Familie nachfolgen will, werden sie bloß von einem Gauner um ihre Ersparnisse betrogen. Während sich in Witschi die Besatzer abwechseln, taucht ein Bettler auf, der in der Folge die Töchter der Juden unterrichtet und Rosas Wissbegier nährt.

Wegen ihrs Vaters

1925 übersiedelt sie nach Leningrad, um Jus zu studieren – gegen den Willen ihres Vaters, doch mit Unterstützung der Mutter, die meint: „Noch nie ist es den Juden in diesem Land so gut gegangen wie jetzt. Irgendwann werden die Juden dafür bezahlen müssen, und wir sollten die Zeit bis dahin ausnützen, so gut es geht.“ – Allerdings: Nicht weil sie Jüdin ist, wird Rosa die Inskription verwehrt, sondern weil ihr Vater während des Bürgerkriegs Forstverwalter für einen Großgrundbesitzer gewesen ist (und obwohl er unter den Kommunisten in der Regionalen Forstkooperative tätig und Sekretär des Dorfsowjets war). Rosa studiert schließlich Deutsch, „um an der Ausbildung der ersten Generation richtiger Sowjetbürger aktiv mitzuwirken“. Wiederum wegen ihres Vaters kann Rosa nicht Lehrerin werden, bekommt schließlich eine Stelle in einem Verlag. Zur selben Zeit lernt sie ihren Mann Naum Schwarz kennen.

Man verspeist Haustiere

Der wird 1941 einberufen, im selben Jahr, als Rosas Bruder Mojsel, der während des Bürgerkriegs in die Rote Armee eingetreten war, als angeblicher Spion verhaftet und erschossen wird. Im Winter desselben Jahres wird Leningrad von den Deutschen eingeschlossen, und die Bevölkerung friert und hungert. Man verspeist die Haustiere, zu Brühe verarbeiteten Tapetenkleister, einige werden sogar zu Menschenfressern.

Rosa überlebt

Rosa überlebt. 1950 will ihr Sohn Kostik Schiffsbauingenieur werden und wird, weil er Jude ist, trotz ausgezeichneter Noten nicht an die Uni aufgenommen. Er versucht es an anderen Universitäten, mit anderen Studienrichtungen, Rosa reist sogar zur obersten Behörde nach Moskau – alles vergeblich. Und als Kostik in der jungen Estnischen Sowjetrepublik doch noch einen Studienplatz erhält, erkrankt er schwer und muss zurück nach Leningrad, wo es Rosa nach vielen verzweifelten Versuchen schlussendlich doch gelingt, ihren Sohn studieren zu lassen.

Stalin, amüsiert

Doch 1953 beginnt die stalinistische Hetze gegen „Zionisten“, und Kostik wird wegen eines Tippfehlers verhaftet (er hatte in einer Arbeit „Stalingad“ geschrieben). Rosa erzählt ihrem Interviewer, dass sie zu ihrer Schwester Klara nach Moskau reist und Stalin persönlich in einem Brief um Unterstützung bittet – mit dem Nachsatz, sie hätte mit ihm zusammen geschlafen. Als sie der Diktator mitten in der Nacht tatsächlich besucht, schildert sie ihm, dass er – wie sie – bei einem Besuch in Witschi während eines Vortrages eingeschlafen sei. Der amüsiert Stalin lässt ihren Sohn aus dem Gefängnis holen und weiter studieren.

Fallengelassen

Noch ehe man die Entscheidung fällen kann, ob man diese Geschichte glauben soll oder nicht, wird in Gigricht entdeckt, dass die Stadt gar nicht 750 Jahre ist, und das Projekt „Fremde Heimat. Heimat in der Fremde“ wird fallengelassen. Etwas plötzlich bricht Vertlib Rosas Erinnerungen mit den Worten ab. „Es wäre noch viel zu erzählen gewesen. Von Naums Tod zum Beispiel. … Vielleicht hätte Rosa von Kostiks Heirat erzählt und davon, wie die Schwiegertochter ins Haus kam.“ Doch: „Was gab es noch zu berichten über ein Leben, das so eintönig und gleichmäßig ablief wie eine Uhr, die man nicht aufzuziehen braucht?“ Über ein nach wie vor nur an Entbehrungen reiches Leben.

Zweifel

Unwillig verabschiedet man sich von Rosa Masur, einer Frau, die man gerne persönlich kennengelernt hätte, verabschiedet sich von einem Roman, der dramaturgisch und stilistisch im Prinzip auch so alt sein könnte wie seine Protagonistin und dessen Inhalt bei aller pointenreichen Raffinesse wahrhaftig anmutet. Gern hätte man geglaubt, dass diese Frau wirklich gelebt hat. Gern hätte man behauptet, aus erster Hand zu wissen, wie es in Russland in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zugegangen ist. Doch wird man unvermittelt mit dem Zweifel zurückgelassen, was denn Rosa nicht noch alles erfunden haben könnte. Ob dies in der Absicht des Autors gestanden ist?

Werner Schuster, © Album/Standard (2001)

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Infos:

Vladimir Vertlib, geboren 1966 in Leningrad (St. Petersburg), emigrierte 1971 mit seiner Familie nach Israel. Später übersiedelte er nach österreich, dann wieder zurück nach Israel, in die USA und schließlich wieder nach österreich, wo er seit 1981 lebt. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Wien und lebt heute in Salzburg. 2001 erhielt er den Förderpreis zum Adelbert-von-Chamisso-Preis sowie den Anton-Wildgans-Preis.

Über Vladimir Vertlib bei Wikipedia.

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