09/04/2013von 751 Views – 0 Kommentare

Bauerdick, Rolf: Zigeuner

Begegnungen mit einem ungeliebten Volk

Sachbuch
Hardcover
352 Seiten
Erschienen 2013 bei DVA

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Inhalt:

Vorbehalte und Berührungsängste, die nicht zuletzt ein Erbe des Nationalsozialismus sind, verstellen in Deutschland den Blick auf das Thema Zigeuner. Rolf Bauerdick taucht ein in die Kultur der größten europäischen Minderheit. Auf über einhundert Reisen in elf Länder begegnete er Menschen, die sich mit selbstverständlicher Unbefangenheit als „Zigeuner“ bezeichnen. Mit erzählerischer Kraft und kritischem Wohlwollen schöpft Bauerdick aus der Fülle seiner Erfahrungen und schildert den Alltag der Zigeuner, ohne ihre massive Diskriminierung zu beschönigen und sie von ihrer Eigenverantwortlichkeit zu entbinden. (Pressetext)

Kurzkritik:

In diesem Buch geht es um gesellschaftliche Ausgrenzung, Diskriminierung und Ausbeutung. Doch es zeigt auch andere Seiten dieser Probleme. Bauerdick gibt den Zigeunern ihre Menschlichkeit zurück, gesteht ihnen zu, gute und schlechte Eigenschaften zu haben wie alle Menschen auf dieser Welt, und holt sie so aus der Keimfreiheit der übertriebenen politischen Korrektheit (und Arroganz).

Eva gibt  ★★★★½  (4,5 von 5 Eselsohren)

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Besprechung:

Musikalische Diebe?

Darf ein Buch heutzutage noch „Zigeuner“ heißen, oder ist das eine antiziganistische Beschimpfung? Rolf Bauerdick verwendet das Wort „Zigeuner“ durchgehend in seinem Buch, aber auch Sinti, Roma, Cale, Romungros, Gitanos, Oláh, Xoraxane, Kalderasch, Manouches, Tsigani …

Vom Zentralrat deutscher Sinti und Roma wird der Begriff „Zigeuner“ als diskriminierend abgelehnt, laut Bauerdick nicht aber von vielen anderen Angehörigen dieses Volkes –„Wir sind Zigeuner, und das Wort ist gut, wenn man uns gut behandelt.“

Da ich nach der Lektüre des Buches weiß, dass es nicht nur Sinti und Roma gibt (siehe oben), werde auch ich in dieser Besprechung das Wort „Zigeuner“ verwenden. Selbstverständlich liegt es mir fern, diskriminieren zu wollen, doch ist es nicht genauso gedankenlos oder arrogant, Menschen, die keine Sinti, sondern etwa Xoraxane sind, als Sinti zu bezeichnen?

Mit Blick auf die Zigeunersiedlung

Ich bin in Oberwart (Burgenland) aufgewachsen, am Stadtrand, mit Blick auf die Zigeunersiedlung. Die Zigeunerinnen brachten uns Walderdbeeren, Schwammerl und Heidelbeeren, die sie im Wald gesammelt hatten, ihre Männer waren Musiker, Hilfsarbeiter, meist jedoch arbeitslos – viele Patienten in der Ordination meines Vaters, der sie behandelte wie alle anderen Oberwarter auch, doch das war damals nicht selbstverständlich. Die Zigeunerkinder – eigentlich könnte ich hier auch Roma sagen, denn die Oberwarter Zigeuner sind Roma – hatten in der Volksschule nichts verloren. Wenn überhaupt, besuchten sie die Sonderschule. Ich war mehrmals Zeugin, wie eine meiner Mitschülerinnen, eine Romni, vom Volksschullehrer der Klasse verwiesen wurde, mit derben Beschimpfungen und, wenn nötig, mit dem Rohrstab.

Einerseits

Um gesellschaftliche Ausgrenzung, Diskriminierung und Ausbeutung geht es auch in Bauerdicks Buch: Viele Zigeuner Osteuropas leben in Elend und großer Armut, auf Müllhalden, in umweltverseuchten Gebieten, in Verschlägen aus Pappkarton und Decken. Die Kinder sind krank, ärztlicher Beistand ist nicht leistbar, in Schulen haben Zigeunerkinder wohl ebensowenig eine Chance wie damals das Mädchen aus Oberwart, dessen Namen mir entfallen ist. Viele fahren in organisierten Bussen zum Betteln nach Westeuropa, nach Deutschland, Österreich, Spanien, Frankreich. Wenigen bleibt das erbettelte Geld zum Leben, Wucherzinsen müssen zurückgezahlt, Fahrtkosten müssen beglichen werden, oft ums Dreifache erhöht wie bei Antritt der Reise ausgemacht. Die Gesellschaft verhält sich gleichgültig bis feindselig, Vorurteile wachsen, Ängste entstehen, Ausgrenzung und Ghettoisierung sind die Folge.

Andererseits

Doch Bauerdick zeigt auch andere Seiten dieser Probleme: Er schreibt über Zigeunerbosse, die dicke Autos fahren, in dreistöckigen Palästen wohnen und sich auf Kosten der von ihnen abhängigen Familien bereichern; über Männer, die ihre Frauen und Kinder auf den Straßenstrich in die europäischen Großstädte schicken; über Eltern, die ihre Kinder prügeln, wenn sie zur Schule gehen wollen; über Streit, Alkoholismus, Kindesmisshandlung, Kriminalität bis zu grausamen Morden an alten Menschen – wo es genügt hätte, Geld zu stehlen, wird mit großer Brutalität zugestochen, geprügelt, gemetzelt. Die vielen osteuropäischen Zigeuner, die jährlich nach Lourdes fahren, um dort zu betteln, setzen nicht mehr auf das Mitgefühl der Menschen, sondern darauf, möglichst lästig zu sein. Die in deutschen Städten (Beispiel im Buch: Dortmund) angesiedelten Zigeuner lassen ihre Unterkünfte verkommen, schmeißen Müll und Essensreste einfach aus dem Fenster, besetzen Hilfseinrichtungen und nehmen sich dort, was unter vielen verteilt werden soll …

Ein Volk ohne Eigenschaften

Darf man so etwas über ein ausgebeutetes, diskriminiertes, im Nationalsozialismus verfolgtes und ermordetes Volk schreiben? Die Gesellschaft für Antiziganismusforschung sieht so etwas als Vorurteil der sogenannten Dominanzgesellschaft. Es sei politisch nicht korrekt, Verbrechen und Fehlverhalten der Zigeuner anzusprechen, so wie es Romantizismus sei, ihnen Musikalität, Gewitztheit, Freiheitsliebe, Fröhlichkeit, Erzählkunst und Temperament zuzuschreiben. So entsteht ein Volk ohne Eigenschaften, weder positiven noch negativen, das in einer auf ewig festzementierten Opferrolle feststeckt, weil keine Eigenverantwortung für Lösungsansätze übernehmen kann, wer keine Eigenverantwortung in der Misere sieht.
(Natürlich betteln nicht nur Zigeuner, schicken nicht nur Zigeuner ihre Frauen auf den Strich, stehlen und morden nicht nur Zigeuner, doch sie tun es eben auch.)

Anti-Antiziganismus

Dieses Dilemma wird in Bauerdicks Buch sehr breit behandelt, und ich musste viel darüber nachdenken, auch, wie es damals war in Oberwart, was wir gedacht und gefühlt haben, wir Volksschulkinder, wenn der Herr Lehrer, der ja in den 60er-Jahren doch noch eine Respektsperson war, die Zigeunerin verprügelt hat.

Doch es hat mich noch vieles mehr berührt, was Bauerdick anspricht. Vom Versagen der Politiker ist hier die Rede, von Hexen und Steuerprüfern, von der Sehnsucht nach dem gerechten Patron, von Frauen in Not, vom Rom der Zukunft und immer wieder vom Antiziganismus und vom Anti-Antiziganismus.

Korrekt und arrogant

Dies ist ein sehr dichtes, manchmal fast beklemmendes Buch, das nie einseitig Partei ergreift. Der Autor und Fotograf Rolf Bauerdick hat den Mut, Tabus anzusprechen, starre Ansichten in Frage zu stellen und hineinzuleuchten in dunkelste Winkel Europas – und darüber zu schreiben. Damit gibt er den Zigeunern ihre Menschlichkeit zurück, gesteht ihnen zu, gute und schlechte Eigenschaften zu haben wie alle Menschen auf dieser Welt, und holt sie so aus der Keimfreiheit der übertriebenen politischen Korrektheit (und Arroganz, Zitat Bauerdick).

Ich finde das erleichternd und befreiend. Und ich wollte, ich hätte als 8-Jährige den Mut gehabt, unseren Lehrer zu fragen, warum die Zigeunerin nicht in die Schule gehen darf. Was er wohl geantwortet hätte?

Von Eva Schuster

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Infos:

Rolf Bauerdick, geboren 1957, lebt im westfälischen Hiddingsel. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Theologie wurde er Journalist. Er hat Reportagereisen in rund sechzig Länder unternommen; seine Text- und Bildreportagen erscheinen in europäischen Tageszeitungen und Magazinen und sind vielfach ausgezeichnet. Sein viel beachteter Roman „Wie die Madonna auf den Mond kam“ erschien 2009 und erhielt den Europäischen Buchpreis 2012 in der Kategorie „Roman“.

Mehr über Rolf Bauerdick bei Wikipedia www.rolfbauerdick.de.

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Literaturmagazin Eselsohren – 

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