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Kaddour, Hédi: Waltenberg, Kapitel 3&4

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Buchcover Waltenberg von Kaddour
Die Kapitel Drei und Vier
Roman
Erschienen 2009 bei Eichborn
Aus dem Französischen von Grete Osterwald
Originalausgabe: „Waltenberg“, 2005
Inhalt:

Das Hotel »Waldhaus« im Schweizer Bergdorf Waltenberg ist das magische Zentrum dieses europäischen Schlüsselromans für das 20. Jahrhundert. Erzählt wird in sich überlagernden und durchdringenden Episoden die Geschichte von vier Menschen, die sich in unterschiedlichen Konstellationen begegnen und wieder verlieren: vom Ingenieur und Schriftsteller Hans Kappler, seiner große Liebe, der amerikanischen Sängerin Lena Hotspur, vom französischen Journalisten Max Goffard und vom Meisterspion Michael Lilstein, Kommunist und Auschwitzüberlebender. (Pressetext)

Besprechung:

Überwältigend

Das ist jetzt keine Angeberei: Als der Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier zu mir einmal sagte, nach einer Seite Proust müsse er überwältigt innehalten, habe ich das nicht verstanden. Sicher war ich in den vielen Jahren seither ebenfalls von Literatur überwältigt, doch erst jetzt, angesichts von Hédi Kaddours „Waltenberg“, fällt mir das wieder ein.

Über die beiden ersten Kapitel habe ich schon geschrieben (siehe hier [4]), und es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass mir das leicht gefallen sei. Nein, das war es – wegen der Auffächerung von Personen, Orten, Handlungen und Perspektiven – nicht.

Zugänglicher

Kapitel Drei und Vier aber sind zugänglicher. Was heißt! – Das ist große Literatur. Während Kaddour in „1956 – Eine schöne Symmetrie“ beschreibt, wie der Spion Lilstein (ein Kommunist, Ausschwitz- und Gulagüberlebender) über sein geplantes Treffen mit dem Schriftsteller Hans Kappler fantasiert und dabei an ihre gemeinsame Geschichte zurückdenkt, lässt er Lilstein in „1956 – die Kindheit eines Maulwurf“ in bester Le-Carré-Tradition einen jungen Franzosen (der aus der kommunistischen Partei austreten möchte und den man als Agenten gewinnen will) mit seinen gezielt eingesetzten Lebenserinnerungen beschwafeln.

Ja, so kann man auch eine Romanfigur zum Leben erwecken, nicht bloß ihre Geschichte abhandeln und dann zur Handlung kommen, sondern Abhandlung und Handlung zusammenfügen und währenddessen (Nachgeborenen) anschaulich über Nazideutschland und Stalin-Sowjetunion erzählen.

Provokateur? Spitzel? Verräter? Staatsdiener?

Währenddessen sitzt der junge Franzose da und weiß nicht, ist Lilstein bloß ein Provokateur, ein Spitzel, ein Verräter oder doch ein Staatsdiener?

Lilstein redet lange, er mischt alles durcheinander, Vertraulichkeiten, Philosophie, unflätige Worte am Rand der Tränen, das Denken Bucharins, des Besten unter den Bolschewiken, des einzigen, der etwas anderes zu bieten hatte als Peitschen und Wachttürme, die Schubert-Lieder, ah, die lieben Sie also auch, Fischer-Dieskau, ja, aber da ist auch noch Hans Hotter, die Engländer vertreiben seine Platten, den Stand der Arbeitslöhne, dann wieder Bucharin, die Chansons von Yves Montand, am schönsten finde ich den jungen Montand, trotz seines Legato, – Beijas Tod oder vielmehr die sieben Tode des Lawrenti Berija, mindestens sieben, am Samstag, dem 27. Juni 1953, –. Lilstein – kehrt zu seiner Mutter zurück, Berlin, Januar 1919, sie war dabei, als Rosa Luxemburg beerdigt wurde, dann wieder zum drohenden Atomkrieg –

Währenddessen sitze ich da und – bin überwältigt. So ist das also.

Ich werde „Waltenberg“ weiter zelebrieren. Wenn ich könnte, könnte ich mir eine Woche frei nehmen für die restlichen 500 Seiten. Aber so ist es auch gut: in Etappen. Und Seite für Seite.

Von Werner Schuster

Zu Kapitel 1 & 2 [4] // zu Kapitel 5 & 6 [5] // zu Kapitel 7 & 8 [6] // zu Kapitel 9 & 10 [7]
Infos:

Über Hédi Kaddour [8] bei Eichborn.

Folgende Links gehen zu Wikipedia:
Gerhard Meier [9]
John le Carré [10]
Nikolai Iwanowitsch Bucharin [11]
Bolschewiken [12]
Dietrich Fischer-Dieskau [13]
Hans Hotter [14]
Yves Montand [15]
Lawrenti Berija [16]
Rosa Luxemburg [17]