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Gamerro, Carlos: Das offene Geheimnis

Roman
Hardcover
341 Seiten
Erschienen 2013 bei Septime
Aus dem argentinischen von Tobias Wildner
Originalausgabe: „El secreto y las voces”, 2002

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]
Inhalt:

Der Polizeichef von Malihuel erhält von einem hochrangigen Militär den Befehl, Darío Ezcurra, einen Bewohner seines Dorfes, verschwinden zu lassen. Die Sache dürfte keine größeren Schwierigkeiten bereiten, abgesehen von einer praktischen Frage: Wie kann ein Mord in einem Dorf, in dem sich alle kennen, geheim gehalten werden? – Zwanzig Jahre später kehrt Fefe zurück in das Dorf seiner verstorbenen Mutter, den Ort seiner Kindheit, um herauszufinden, warum Ezcurra sterben musste. (Pressetext)

Kurzkritik:

Es ist ziemlich klar, was Carlos Gamerro mit diesem Roman wollte: Die Verantwortung des Einzelnen in einem System von staatlichem Terror untersuchen. Und beschreiben, wie sich Menschen in ihren Erinnerungen widersprechen. Leider widersprechen sich die Bewohner des argentinischen Dorfes Malihuel so sehr, dass ich nicht mehr in der Lage war, der Geschichte zu folgen. „Das offene Geheimnis“ kommt als Stimmengewirr daher, in dem sich auch die Verantwortung des Einzelnen verliert.

Besprechung:

Stimmengewirr

Es ist ziemlich klar, was Carlos Gamerro mit diesem Roman wollte: Die Verantwortung des Einzelnen in einem System von staatlichem Terror untersuchen. Und beschreiben, wie sich Menschen in ihren Erinnerungen widersprechen. Leider widersprechen sich die Bewohner des argentinischen Dorfes Malihuel so sehr, dass ich nicht mehr in der Lage war, der Geschichte zu folgen.

Schon dass der Polizeichef von Malihuel von einem hochrangigen Militär den Befehl erhält, einen Bewohner seines Dorfes, Darío Ezcurra, verschwinden zu lassen, ist mir eigentlich nur dank des Klappentextes klar geworden. Ob man ihn aus politischen oder privaten Gründen beseitigen wollte, weiß ich bis jetzt nicht.

Auch kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, wer oder wie dieser Ezcurra war. Er wird einmal als Hallodri beschrieben, der allen Frauen nachstieg; dann als Journalist, der die Machenschaften eines Industriellen anprangerte; dann als dubioser Geschäftemacher, der Grundstücke verkaufte; und als Wandervogel, den es immer wieder von Malihuel wegtrieb.

Auf der Abschussliste

Als gesichert gilt, dass ihn niemand davor gewarnt hat, dass er auf der Abschussliste stand; teils aus Angst, teils aus Rache. (Wobei sich mir persönlich schon die Frage stellt, ob ein ganzes Dorf jemanden über seine geplante Ermordung im Ungewissen lässt, nur weil man mit ihm das eine oder andere Hühnchen zu rupfen hat).

Sicher ist weiters, dass der Ich-Erzähler Fefe zwanzig Jahre später in das Dorf seiner Kindheit zurückkehrt und vorgibt, für ein Buch zu recherchieren, das in Malihuel spielen soll. Auch von ihm erfährt man nicht viel: Er hat Frau und Kind in Buenos Aires zurückgelassen, trinkt viel (auch weil er seine Gesprächspartner ständig einladen muss) und wäre auch anderen Drogen sowie einem Seitensprung nicht abgeneigt. (Am Schluss erfährt man noch etwas Entscheidendes, aber das darf man nicht verraten, auch wenn es ein ziemlich banales Roman-Geheimnis ist.)

Wer spricht?

Gamerro schildert dies in fünf namenlosen Kapiteln in vielen kurzen Szenen, in denen Schauplätze und – bis auf Fefe – die Personen ständig wechseln. Fefe spricht darin mit Freunden, Bekannten, Verwandten und sonstigen Dorfbewohnern; man sollte sich Notizen machen, damit man ab Seite 50 noch weiß, wer genau da gerade seine Version(en) zum Besten gibt.

Das Buch soll die Schrecken einer Militärdiktatur beschreiben, wie sie sich bis ins kleinste Dorf ausbreiten, doch diese wird nur greifbar, als ein Polizist erzählt, wie er mitgeholfen hat, als Ezcurra aufgegriffen, erschossen und dann im See versenkt wurde. Dies berichtet er unter Alkoholeinfluss im für mich gelungensten Kapitel (dem dritten). Hier ist der Erzählstrang klar, und es ist eindeutig, wer die Haupt- und wer die Nebenstimmen sind.

Niemand hat ein schlechtes Gewissen

Davon einmal abgesehen, finde ich es schade, dass Fefe in Malihuel niemanden auftreibt, der sein Verhalten und/oder den Vorfall vor zwanzig Jahren bedauert. Auch wenn man sich weltweit mit einer Vergangenheitsbewältigung schwer tut, so ist es doch unwahrscheinlich, dass in einem Kollektiv niemand zumindest ein schlechtes Gewissen hat.

Aber Gamerro hat sich ja schon schwer damit getan, die vielen gleich klingenden Stimmen voneinander abzugrenzen, wie hätte er da auch noch Polyphonie einarbeiten sollen? Um im Bild zu bleiben: „Das offene Geheimnis“ kommt als homophones Stimmengewirr daher, in dem sich auch die Verantwortung des Einzelnen in einem System von staatlichem Terror verliert. Das ist für mich weder inhaltlich noch ästhetisch befriedigend.

Von Werner Schuster

Infos:

Carlos Gamerro, geboren 1962 in Buenos Aires, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des heutigen Argentiniens. Neben fünf Romanen und einem Erzählband veröffentlichte er auch Essays und übersetzte u.a. Werke von Graham Greene und William Shakespeare. Darüber hinaus schrieb er das Drehbuch zu dem Film „Tres de Corazones“. Ein Teil seiner Romane wurde ins Englische und Französische übertragen sowie für das Theater adaptiert.

Über argentinische Diktaturen [5] bei Wikipedia.