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Herrndorf, Wolfgang: Sand

Roman
Hardcover, Taschenbuch, E-Book
480 Seiten
Erschienen 2011 bei Rowohlt

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]
Klappentext:

„Er aß und trank, bürstete seine Kleider ab, leerte den Sand aus seinen Taschen und überprüfte noch einmal die Innentasche des Blazers. Er wusch sich unter dem Tisch die Hände mit ein wenig Trinkwasser, goss den Rest über seine geplagten Füße und schaute die Straße entlang. Sandfarbene Kinder spielten mit einem sandfarbenen Fußball zwischen sandfarbenen Hütten. Dreck und zerlumpte Gestalten, und ihm fiel ein, wie gefährlich es im Grunde war, eine weiße, blonde, ortsunkundige Frau in einem Auto hierherzubestellen.“

Kurzkritik:

Ich habe dieses Buch gelesen, weil mir „Tschick“ ausnehmend gut gefallen hat und weil Herndorf dafür den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen hat. Jetzt bin ich von „Sand“ nicht enttäuscht, frage mich jedoch, ob dies wirklich eines der besten Bücher des Jahres 2011 gewesen ist.

Besprechung:

Zerrinnt zwischen den Fingern

Ich habe dieses Buch gelesen, weil mir „Tschick“ ausnehmend gut gefallen hat und weil Herrndorf dafür den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen hat. Jetzt bin ich von „Sand“ nicht enttäuscht, frage mich jedoch, ob dies wirklich eines der besten Bücher des Jahres 2011 gewesen ist.

Jedenfalls hat mir der erste Teil, „Das Meer“, am besten gefallen. Da wirft Herrndorf kapitelweise Schlaglichter auf eine Story, von der man unmöglich sagen könnte, woraus sie besteht. Wir befinden uns in Nordafrika, stilsicher beschreibt der Autor ein Barackendorf, beschreibt zwei Polizeibeamte, eine mit dem Schiff ankommende Frau namens Helen, den Amoklauf eines Nordafrikaners in einer Hippie-Kommune (vier Tote), den Tod eines mysteriösen Mannes namens Lundgren (der wahrscheinlich mit Atomwaffen zu tun hat), die Party eines Schriftstellers und einen weiteren mysteriösen Mann (dem Lundgren begegnet).

Mit dem zweiten Buch ändert sich die Erzählweise, Herrndorf berichtet nun chronologisch vom Abenteuer und Leidensweg – ich nehme an – des weiteren mysteriösen Mannes. Ich nehme weiters an, der Hintergrund von „Sand“ ist, dass der ungenannte nordafrikanische Staat Atomwaffen herstellen will, dass Lundgren dem weiteren mysteriösen Mann wichtige Bestandteile einer Maschine zur Uran-Anreicherung übergeben hat. Dieser Mann wurde überfallen und so brutal zusammengeschlagen, dass er sein Gedächtnis verlor.

„Carl“ in der Wüste

Er wird von Helen in der Wüste aufgegabelt, die (behauptet, für eine Kosmetikfirma tätig zu sein und) ihn bei sich im Hotel aufnimmt. Wahrscheinlich sein Auftraggeber ist natürlich hinter ihm her und – wie man später erfahren wird – ein Geheimdienst. Der mysteriöse Mann, der sich bald Carl nennt, ist also nicht nur auf Suche nach sich selbst und seinem bisherigen Leben, sondern auch in ständiger Gefahr. Im Laufe der Handlung wird er immer wieder schlimm zusammengeschlagen, am Schluss auch gefoltert.

Nachdem wir es mit einer Art von – oftmals launig geschriebenem – Agententhriller zu tun haben, verrate ich nicht, ob „Carl“ seine wahre Identität herausbekommen wird. (Viele Rezensenten tun das, weil sie „Sand“ der anspruchsvollen Literatur zuordnen.) Der Roman ist für mich jedenfalls leidlich spannend (hauptsächlich wegen der Gedächtnisverlust-Perspektive) und ohne Zweifel gekonnt geschrieben, das literarische Niveau des ersten Teiles erreicht Herrndorf in der Folge jedoch nicht mehr.

Mehrere Schlüsse

Die Handlungsebenen sind leidlich verknüpft, doch viele Fäden laufen merklich konstruiert zusammen (etwa dass es Helens Jugendfreundin in die Hippie-Kommune verschlagen hat). Finale im eigentlichen Sinn gibt es keines. Oder, besser gesagt, mehrere: „Carl“ wird in der Wüste dem (anscheinend) sicheren Tod überlassen, Herrndorf berichtet im viertletzten Kapitel „Das weitere Geschehen“ knapp, was aus einigen Figuren noch wurde, klärt im drittletzten Kapitel andeutungsweise, wer „Carl“ sein könnte, lässt diesen im vorletzten Kapitel doch noch einmal auftauchen und beschreibt zum Schluss, wie das, wonach so viele so lange gesucht haben, unerkannt in jenem Barackendorf vom Anfang des Buches verschwindet.

Dieses Roman-Ende ist denn doch etwas unbefriedigend. Nun kann man der Ansicht sein, Herrndorf habe ein literarisches Verwirrspiel um einen verwirrenden Plot verfasst oder er habe einfach drauf los geschrieben und geschaut, wo ihn die Reise hinführt. Gegen die zweite Annahme spricht, dass viele Handlungselemente über das ganze Buch hinweg geplant eingesetzt und wieder aufgegriffen werden. Gegen die erste Annahme spricht, dass der Roman inhomogen wirkt, aber nicht absichtlich postmodern. (Vielleicht ist er post-postmodern, indem er zwar dem Protagonisten in einer verwirrenden Welt verwehrt, zu einem selbstbestimmten Subjekt zu werden, sich aber zum Großteil dennoch einer lienaren Erzählweise bedient.)

Absichtlich?

Das Problem für mich ist dabei, dass ich hinter all dem keine klare Absicht des Autors erkennen kann. Sollte man für einer Interpretation ganz banal den Titel hernehmen und konstatieren, dieser Roman zerrinne zwischen den Fingern? Oder gar mutmaßen, er wäre Herrndorf schon beim Schreiben zerronnen? Jedenfalls ist „Sand“ für mich kein ärgerliches Werk, aber auch nicht der große Wurf, der den Preis der Leipziger Buchmesse gerechtfertigt hat.

Von Werner Schuster

Infos:

Das meinen andere [5] (Perlentaucher-Rezensionsnotizen).

Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren, hat Malerei studiert und unter anderem für die „Titanic“ gezeichnet. 2002 erschien sein Debütroman „In Plüschgewittern“, 2007 der Erzählband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ und 2010 der Roman „Tschick“, der zum Überraschungserfolg des Jahres avancierte. Wolfgang Herrndorf wurde u.a. mit dem Deutschen Erzählerpreis (2008), dem Brentano-Preis (2011), dem Deutschen Jugendliteraturpreis (2011), dem Hans-Fallada-Preis und dem Leipziger Buchpreis (2012) ausgezeichnet.

Mehr über Wolfgang Herrndorf [6] bei Wikipedia.