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Tucholsky, Kurt: Der Zeitsparer

Grotesken von „Ignaz Wrobel“
Illustriert von Franziska Walther
Hardcover
104 Seiten
Erschienen 2013 bei kunstanstifter

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]
Inhalt:

Mal scharfzüngig, mal heiter: Tucholskys satirisch verdrehte Welt in einem bunten und ebenso skurril illustrierten Buch. Kurt Tucholsky, auch bekannt unter den Pseudonymen Ignaz Wrobel,  eobald Tiger, Peter Panter und Kasper Hauser, kritisiert in den hier vorgestellten Kurzgeschichten humorvoll und pointiert die geheiligten Institutionen der Gesellschaft, hinterfragt Werte und Moral und ermutigt, in den Unzulänglichkeiten des Alltags die Lust am Dasein zu entdecken. (Pressetext)

Kurzkritik:

Die Grotesken sind bis zu einem gewissen Grad zeitlos; auf jeden Fall lassen sie sich ohne Mühe ins Heute übertragen. Franziska Walthers ebenso expressive wie detailreiche Illustrationen dienen diesen Texten.

Besprechung:

Ein Bezirk seines Wesens

Die Grotesken sind bis zu einem gewissen Grad zeitlos; auf jeden Fall lassen sie sich ohne Mühe ins Heute übertragen. Franziska Walthers ebenso expressive wie detailreiche Illustrationen dienen diesen Texten.

Was weiß man heutzutage noch über Kurt Tucholsky? Mehr, als dass er „Schloß Gripsholm“ geschrieben hat und ein politisch engagierter Journalist gewesen ist? Jedenfalls hat er für die linksliberale Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“ so viele Beiträge verfasst, dass er einen guten Teil davon mit Pseudonymen zu zeichnen pflegte. Ignaz Wrobel war eines davon: „Wrobel – so hieß unser Rechenbuch; und weil mir der Name Ignaz besonders häßlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens.“

1914 hat Tucholsky als Ignaz Wrobel unter dem Titel „Der Zeitsparer“ vier Grotesken veröffentlicht, von denen der Kunstanstifter-Verlag jetzt drei neu herausgebracht hat – illustriert von Franziska Walther. Diese Grotesken sind mehr als Talentproben – auch wenn sich Tucholsky darin – für seine damals 24 Jahre – etwas zu altklug gibt und auch wenn es ihnen meiner Meinung nach an starken Schlusspointen mangelt. Sie sind bis zu einem gewissen Grad zeitlos; auf jeden Fall lassen sie sich ohne Mühe ins Heute übertragen.

Lebensqualität gewinnen

„Der Zeitsparer“ übertreibt den Spruch „Zeit ist Geld“. Man hat eine Zeitspar-Maschine erfunden; die Menschen verzichten auf alle Vergnügungen, um die so gesparte Zeit verkaufen zu können. Anders gesagt: Zeit hat nur mehr, wer reich ist. Nur ein Mann kümmert sich nicht darum und lebt zufrieden. Allerdings hat niemand Zeit, diesen Affront auch zu bemerken.

In „Das Paradigma“ wird der Repetitor (d.i. ein Tutor, der StudentInnen vor Prüfungen komprimiert Wissen vermittelt) Walter Jarotschiner eines Nachts von einem Wesen heimgesucht. Es handelt sich um Peter Panter (ein weiteres Pseudonym Tucholskys), der darunter leidet, dass er von Jarotschiner als Beispieltäter für alle möglichen Verbrechen erfunden wurde.

Sein allereinzigstes Paradigma!

Sein schönstes Paradigma! Sein eines, einziges, allereinzigstes Paradigma! Sein Herz hämmerte: Wie sollte er morgen die atmende Gemeine lehren, wenn jener fehlte? Wie den jungen Herren beibringen, daß das Standesamtsregister und das Grundbuch nicht ganz dasselbe sei?
Diese Nacht schlief Walter Jarotschiner nicht. Aber am Morgen – es mochte auf ein Viertel sieben gehen, und draußen begann es schon zu grauen und zu blauen, – erschuf er: THEOBALD TIGER. (Ein weiteres Pseudonym Tucholskys; Anm.)

„Von dem Manne, der keine Zeitungen mehr las“ handelt davon, was der Titel verspricht, und auch jener Mann gewinnt dadurch Lebensqualität.

Nun ist „Der Zeitsparer“ unschwer als Appell zu deuten, aus unserer Zeit mehr zu machen, „Das Paradigma“ entzieht sich einer eindeutigen Interpretation, und „Von dem Manne, …“ lässt sich (auch wenn die Schlusspointe in eine andere Richtung weist) leicht auf unsere Dauer-Info(tainment)-Berieselung übertragen.

Expressive Illustrationen

Das Besondere an diesem Buch sind allerdings die ebenso expressiven wie detailreichen Illustrationen, die den Texten dienen und gleichzeitig eindeutig als von Franziska Walther zu erkennnen sind. Walther hat Tucholskys Grotesken in groteske Bilder übertragen, wobei die von ihr gewählten Textfarben Violett, Rot und (ich glaube) Ocker auch in diesen Bildern vorherrschend sind. Zu jeder Seite mit Text gibt es rechts eine Illustration, die nah an diesem Text bleibt (unter Umständen findet man darin auch Überlesenes).

Wenn zum Beispiel der Repetitor Jarotschiner nicht mehr daran glaubt, dass seine Studenten einen eigenen Namen besäßen, so sieht man rechts beinah unterschiedlose Menschen, alle in grünen Pullovern, an denen mit Rot Jarotschiners „topographisches System“ hervorgehoben ist: der „Tür-Präsident“ hat einen stilisierter Hut, auf den „Nebenmann“ verweist ein Pfeil, oder jemand hat ein Mascherl, eine Brille oder eine rote (wohl in natura auffällige) Nase.

Die Zunge als Arm

Oder: Peter Panter hat Hörner am Kopf (und eine violette Haut) und begeht „seine“ Verbrechen mit einem roten Arm, der wie eine riesige Zunge aus seinem Mund kommt.

Oder: Die Überforderung der Zeitungslesers (er heißt Grillruhm) wird mit wirren Bleistift-Kreiseln dargestellt – mittendrin Grillruhm mit angespannter Körperhaltung und zusammengekniffenem Mund. – Ohne Zeitung schnuppert er entspannt an seiner Tasse Kaffee, während es draußen (anscheinend) stürmt und schneit.

Insgesamt also ein oftmals ansehenswertes Buch. Ob mit den Texten auf Tucholskys übriges – dereinst in zehn Taschenbüchern herausgegebenes – Werk neugierig gemacht wird, kann ich nicht beurteilen. Ich persönlich mag seine journalistischen Arbeiten lieber als seine schriftstellerischen.

Von Werner Schuster

Infos:

Kurt Tucholsky (1890–1935) zählt zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“ erwies er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter, Romanautor, Lyriker und Kritiker (Literatur, Film, Musik). Er verstand sich selbst als linker Demokrat, Sozialist, Pazifist und Antimilitarist und warnte vor der Erstarkung der politischen Rechten– vor allem in Politik, Militär und Justiz – und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus.

Mehr über Kurt Tucholsky [5] bei Wikipedia.

Franziska Walther, geboren 1980, lebt als Grafikdesignerin und Illustratorin in Weimar. Nach einem Architekturstudium und einem Jahr Arbeit als Stadtplanerin in Shanghai, China, kam sie nach Weimar zurück und studierte dort Visuelle Kommunikation an der Bauhaus-Universität. Als Illustratorin und Grafikdesignerin gestaltet sie Bücher, Magazine, Broschüren und Buchumschläge für Verlage und Agenturen.
Das Buch „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ wurde im Young Illustrators Award der Illustrative 11 mit einer Anerkennung ausgezeichnet. (Zur Besprechung bei den Eselsohren. [6])

Mehr von und über Franziska Walther [7] auf www.franziskawalther.de.