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Michaelis, Antonia: Paradies für alle

Roman
Hardcover
480 Seiten
Erschienen 2013 bei Knaur
Gastbeitrag von Nadja

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]
Inhalt:

Das Paradies ist machbar, glaubt der 9-jährige David. Man müsste nur das Geld ein wenig umverteilen. Oder die Kühe von nebenan freilassen, die noch nie auf der Weide waren. Dass David begonnen hat, seine oft wilden Pläne in die Tat umzusetzen, erfährt seine Mutter Lovis erst, als er nach einem Unfall im Koma liegt. Sie findet seine Aufzeichnungen und beginnt zu kämpfen: um ihren Sohn, um ihre zerrüttete Ehe und um das Paradies auf Erden, das zu scheitern droht. (Pressetext)

Kurzkritik:

„Paradies für alle“ ist absolut kein Kinderbuch, vielmehr gibt das Buch einen Blick darauf frei, wie Kinder die Welt der Erwachsenen sehen oder sehen können. Es ist ein sehr trauriges, aber zugleich ein wundervoll schönes und positives Buch. Es vereint so viel Gegensätzliches.

Die Geschichte ist ausgesprochen dramatisch, alles andere als leichte Kost und zugleich wunderbar und sehr liebevoll geschrieben. Die Geschichte bleibt bis zum – überraschenden – Ende ausgesprochen spannend.

Besprechung:

Wie Kinder die Welt der Erwachsenen sehen

„Paradies für alle“ fesselt einen von Anfang an. Der 9-jährige David wurde auf der A20 in der Nähe von Rostock von einem Auto angefahren. 50 Kilometer von zu Hause entfernt. Der Fahrer des grauen BMW konnte nicht ausweichen. David wurde ins Krankenhaus eingeliefert und liegt im Koma. Wie ist er auf die Autobahn gekommen? Wird er wieder aufwachen, und wenn ja in welchem Zustand?

Man weiß nicht was geschehen ist, diese Frage stellt sich Lovis, Davids Mutter, bis zur Auflösung am Ende immer wieder, was das Buch sehr spannend macht. Erzählt wird zu Beginn aus der Sicht von Lovis in einem sehr reduzierten fast telegrammartigen Stil. Durch die Dichtheit der Sprache wirkt der Beginn der Geschichte beklemmend, Lovis sehr reduziert auf wenige Eigenschaften. Sie hat sich von ihrem Mann Claas entfernt und auch von Davids Leben und seinen Gedanken.

Sie lebt in ihrer eigenen Welt, in der sie als erfolgreiche Malerin abstrakte graue Kästchen malt, Claas ist wegen seiner Arbeit im Krankenhaus nur selten zu Hause, hat aber letztlich viel mehr von Davids Gedanken gewusst, als Lovis ahnt. Lovis macht sich Vorwürfe, sie hätte mehr Zeit mit David verbringen müssen, die Art von Vorwürfen, die man sich als Eltern in solch einer Situation macht. So weit wäre der Plot sicherlich vorhersehbar und oft genug gelesen, so weit wäre es ein Buch wie viele andere.

Hochbegabt und naiv

Dabei hat sich David ähnlich wie Lovis ebenfalls immer mehr in eine eigene Teilwelt zurückgezogen, die ganz durch seine Projekte bestimmt wird. So erstellt David aus dem Skelett eines überfahrenen Otters mittels Draht ein Modell, entwirft eigene Briefmarken, löst Zauberwürfel in Rekordzeit und beschäftigt sich für sein Alter mit recht ungewöhnlichen Dingen und Fragen. Zuerst religiösen, dann philosophischen Fragen, die immer komplexer werden und die für Davids Umgebung und so auch Lovis kaum mehr verständlich sind. David ist einerseits hoch intelligent und zugleich aber noch kindlich naiv, was in dieser Kombination ursächlich für Davids Gedanken und Taten sein wird.

Davids Werkstat-Tagebuch

Lovis findet Davids Werkstat-Tagebuch, eine Art Tagebuch seiner Projekte. Diese Aufzeichnungen sind chiffriert. Lovis befragt Nachbarn und Freunde, und muss sich dadurch mit Dingen und Menschen auseinandersetze, die sie bislang nicht wahrgenommen oder bewusst ausgeklammert hat. David stellt sich in seinem Werkstattagebuch unendlich viele Fragen und so erfährt Lovis von einem geheimnisvollen Haus im Wald, in dem ein alter Mann lebt, der nur knappe Antworten gibt, der in Rätseln spricht und David allem Einblick in die Werke von Philosophen wie Sokrates, Nietzsche oder Habermaas gibt. Das führt zu wunderbaren Dialogen, die zu Beginn noch recht verspielt erscheinen aber der Geschichte die eigentliche Dramatik geben.

Es beginnt mit einfachen Sachen

David sieht, dass das Glück nicht gleich verteilt ist, dass Reichtum oder Armut nicht gleich verteilt sind, und macht sich Listen mit Dingen, die er ändern will. David will ein Paradies auf Erden schaffen. Es beginnt mit einfachen Sachen, die bestimmten Menschen fehlen, so wie Lotta ein Fahrrad fehlt. Lotta, die David bewundert, die aus einer armen Familie kommt und irgendwie alles Unglück auf sich zieht. Lotta, die vielleicht nicht die Schlaueste ist, aber letztlich viel mehr versteht als sie sich selbst zutraut. Davids und Lottas Listen werden länger und die Wünsche komplizierter. Sie versuchen einer alten Frau zu helfen, die aus ihrem Haus ausziehen muss, denn sie soll in einem Heim unterkommen. Aus kleinen Projekten werden größere, kompliziertere und auch gefährlichere.

Kindlicher Idealismus

Die Rettungsversuche erscheinen zu Beginn kindlich, versetzt mit viel Idealismus und in Bezug auf Lotta mit sehr viel Unbekümmertheit, einer wunderbaren Direktheit und Ehrlichkeit und einer gewissen Naivität. Die anfänglichen Fragen in Bezug auf Religionen werden zu philosophischen Grundfragen. Eine Antwort auf alles? Es hat in der Konsequenz etwas Hilfloses.

Dinge ändern

Natürlich. Das, was die Philosophen in den letzten Jahrtausenden an Theorien erschaffen haben, werden zwei Kinder – oder zwei Menschen – zusammen nicht in wenigen Monaten in Taten umsetzen können. Es ist somit auch mehr der Wille, etwas ändern zu wollen, der einen durchaus berührt, Dinge zu ändern, die man eben als Erwachsener nicht mehr wahrnimmt oder an deren Existenz man sich gewöhnt hat. So. wie Antonia Michaelis es beschreibt, hat dies etwas sehr Wunderbares und Bewegendes.

Beeindruckend ist der Detailreichtum in Antonia Michaelis Beschreibungen und Beobachtungen. Poetisch? Das klingt nach Kitsch und das trifft für „Paradies für alle“ sicherlich nicht zu. Mit dem Aufschlagen Buches läuft beim Lesen ein Film im Kopf ab der bis zum Ende nie abreist.

Kinderwelt, Erwachsenenwelt

Sehr eindrucksvoll wechselt Michaelis nicht nur sprachlich zwischen Davids und Lovis Welt. Die Wechsel der beiden Ebenen machen das Buch von Beginn an so spannend, die Geschichte um David und Lotta weiß durchgängig zu verzaubern. Antonia Michaelis schafft es, die Sprache und Gedanken von Kindern sehr lebendig abzubilden. Es erscheint zum Anfang vielleicht wie eine Art Spiel, was David betreibt, man nimmt ihn so, wie man es als Erwachsener gewohnt ist, nicht ganz ernst, aber letztlich sind es Davids Versuche seine Umgebung zu verändern, das zu erreichen was man selbst für unmöglich hält, was zum bestimmenden Teil der Geschichte wird.

Traurig und zugleich wundervoll schön

„Paradies für alle“ ist absolut kein Kinderbuch, vielmehr gibt das Buch einen Blick darauf frei, wie Kinder die Welt der Erwachsenen sehen oder sehen können. Es ist ein sehr trauriges, aber zugleich ein wundervoll schönes und positives Buch. Es vereint so viel Gegensätzliches.

Die Geschichte ist ausgesprochen dramatisch, alles andere als leichte Kost und zugleich wunderbar und sehr liebevoll geschrieben. Die Geschichte bleibt bis zum – überraschenden – Ende ausgesprochen spannend.

Gastbeitrag von Nadja

Infos:

Antonia Michaelis, 1979 geboren, begann bereits als Kind zu schreiben. Sie ist eine renommierte Autorin von zahlreichen Büchern und Theaterstücken für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Ihr Roman „Der Märchenerzähler“ wurde für den Deutschen Jugendbuchpreis und den Buxtehuder Bullen 2012 nominiert. Antonia Michaelis lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in einem Dorf nahe der Insel Usedom.

Mehr über Antonia Michaelis [5] bei Wikipedia.