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Puenzo, Lucía: Wakolda

Cover Puenzo Wakolda

  • Krimi
  • Hardcover
  • 192 Seiten
  • Erschienen 2012 bei Wagenbach
  • Aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte
  • Originalausgabe: „Wakolda”, 2011

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]
 

Inhalt:

Eine argentinische Familie im Citroën und ein alleinreisender Deutscher im Chevrolet geraten in der Einöde Patagoniens in ein Unwetter. Während der gemeinsam verbrachten Sturmnacht erregt die Kleinwüchsigkeit von Lilith, der 12-jährigen Tochter der Familie, die Aufmerksamkeit des Ausländers, der sich José nennt. Nach der Ankunft in Bariloche quartiert sich der Fremde bei der Familie als Untermieter ein und verspricht, das Mädchen zu behandeln. Als er dann sogar Liliths neugeborenen Zwillingsschwestern das Leben rettet, gewinnt er nach und nach das Vertrauen der Familie. Doch die seltsamen Skizzen in seinem Zimmer lassen keinen Zweifel zu: José und Josef Mengele, der KZ-Arzt von Auschwitz, sind ein und dieselbe Person … (Pressetext)

Kurzkritik:

Puenzo lässt den KZ-Arzt Josef Mengele – unter dem Namen José – in Argentinien seine bestialischen Experimente an einer Kleinwüchsigen und an Zwillingen weiterführen.

Dadurch, dass dieser „Mengele“ der Wirklichkeit nachgebildet ist, wirkt der Horror, der von diesem Buch ausgeht, unmittelbarer als der erfundene in Psychothrillern. Auch wenn man nur ein Buch gelesen hat, kann man sich nicht damit beschwichtigen, dass man nur ein Buch gelesen hat.

Besprechung:

Der Todesengel flog weiter

Ein kühnes, schreckliches Buch. Lucía Puenzo schildert eine fiktive Episode aus dem Leben des „Todesengel“ genannten KZ-Arztes Josef Mengele. Dieser war in Auschwitz für die Selektion zuständig und hatte dort bestialische Experimente an Häftlingen, darunter auch Kindern, durchgeführt, sie etwa ohne Narkose operiert oder ihnen Krankheitserreger injiziert. 1949 war ihm – wie vielen anderen Nazis, darunter Adolf Eichmann, – die Flucht nach Argentinien gelungen.

Hier lässt ihn Puenzo – unter dem Namen José – seine Experimente weiterführen. Sie schildert Mengele als immer noch von der Rassenhygiene überzeugten Wissenschaftler. Zu Beginn des Romans beobachtet er das kleinwüchsige Mädchen Lilith und schließt sich ihrer Familie an, die nach Bariloche reist, um dort eine Pension zu betreiben.

Forschungsmaterial

Er quartiert sich in dieser Pension ein und es gelingt ihm, die Familie insoweit für sich einzunehmen, als sie ihm gestattet, Lilith‘ Kleinwüchsigkeit zu „behandeln“. Als ihn seine deutschen und israelischen Verfolger ausfindig machen, beschließt er, sich nach Paraguay abzusetzen. Doch dann setzen bei Lilith‘ schwangerer Mutter die Wehen zu früh ein, er bringt mittels Kaiserschnitt Zwillinge auf die Welt, mit denen er ebenfalls experimentiert. (Mengele hat in Auschwitz barbarische Forschung auch an Kleinwüchsigen und Zwillingen betrieben.) Erst im letztmöglichen Augenblick entschließt er sich doch zur Flucht.

Identifikation mit den Opfern

Man will es nicht wahr haben und doch ist es wahrscheinlich – und Puenzo illustriert es in ihrem Roman –, dass Verbrecher wie Mengele keine Einsicht oder Reue gezeigt haben und zeigen. Das ist die eine schreckliche Seite von „Wakolda“.

Die andere: Über Mengeles bestialisches Handeln in Auschwitz zu lesen, ist schon schlimm genug. (Einige Häftlingsärzte begingen Selbstmord, weil sie seine Befehle nicht befolgten wollten.) Doch man kann sich eigentlich nicht vorstellen, was die von ihm gequälten Häftlinge durchgemacht haben. Indem Puenzo Mengeles Experimente aus dem Konzentrationslager holt, ermöglicht sie eine Identifikation mit den Opfern.

Identifikation mit dem Aggressor

Dass Lilith von ihrem Peiniger fasziniert ist – oder: sich mit ihren Aggressor identifiziert –, macht die Sache nicht erträglicher.

Zusätzlich weist sie in „Wakolda“ darauf hin, dass es in Argentinien Konzentrationslager schon vor denen der Nazis in Deutschland gegeben hat. Oder dass der indigenen Bevölkerung andere Familiennamen gegeben wurden, sodass die Menschen ihre Verwandten nicht mehr ausfindig machen konnten.

Man hat nicht nur ein Buch gelesen

Doch hauptsächlich holt sie den „Todesengel von Auschwitz“ aus den Geschichtsbüchern. Dadurch, dass José der Wirklichkeit nachgebildet ist, wirkt der Horror, der von diesem Buch ausgeht, unmittelbarer als der erfundene in Psychothrillern. Anders gesagt: Auch wenn man nur ein Buch gelesen hat, kann man sich nicht damit beschwichtigen, dass man nur ein Buch gelesen hat.

Von Werner Schuster
Infos:

Lucía Puenzo, international erfolgreiche Filmregisseurin und Romanautorin, wurde 1976 in Buenos Aires geboren. Im Verlag Klaus Wagenbach erschienen bisher „Das Fischkind“ und „Der Fluch der Jacinta Pichimahuida“. In Puenzos eigener Verfilmung wird „Wakolda“ 2013 als argentinisch-deutsche Co-Produktion in die Kinos kommen.

Mehr über Lucía Puenzo [5] und über Josef Mengele [6] bei Wikipedia.

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