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Fernández, Nona: Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Cover Fernandez Mapocho
  • Roman
  • Hardcover
  • 264 Seiten
  • Erschienen 2012 bei Septime
  • Aus dem chilenischen Spanisch von Anna Gentz
  • Originalausgabe: „Mapocho”, 2003

Inhalt:

Das Telefon klingelt und nur kurze Zeit später reist Rucia ihrer großen Liebe Indio nach Santiago de Chile nach. Doch statt Indio findet sie dort nur das alte Haus ihrer Kindheit und Fausto, einen alten Historiker, der gerade seine Kinder verloren hat. Ein Labyrinth aus Erinnerungen, Geheimnissen und Lügen tut sich auf. Warum versteckt sich Indio vor ihr und was hat es mit den im Mapocho treibenden Toten auf sich? (Pressetext)

Kurzkritik:

Was in diesem Roman erzählt wird, bleibt immer in Schwebe. Aus diesem Zustand schält sich jedoch ein Bild von Lateinamerika und insbesondere von Chile hervor, das wahrhaftig anmutet. Was man über die Kolonialzeit und über die grausame und verbrecherische Herrschaft von Augusto Pinochet weiß, wird durch Fernández‘ Erzählweise mit Bildern ausstaffiert, die man nicht mehr so leicht los wird.

Das mag auch damit zu tun haben, dass der Roman trotz seiner großteils schrecklichen und traurigen Themen eine beinahe schon humorvolle Leichtigkeit verströmt. Und dies mag an Fernández‘ „südamerikanischer“ Art liegen, nicht selbstverliebt, sondern mit Liebe zur Sprache und zum phantasievollen Erzählen zu schreiben.

Besprechung:

Ist es wahr?

Gute Literatur braucht nicht unbedingt eine tolle Story, manchmal nicht einmal faszinierende Charaktere. Die Handlung von „Mapocho“ zum Beispiel wäre schnell erzählt. Vorgeschichte: Die Mutter hat ihre beiden Kinder nach dem Tod ihres Mannes von Chile nach Europa mitgenommen, wo sie sie wegen ihres inzestuösen Verhaltens trennte. Bei einer Autofahrt des Sohnes mit Mutter und Schwester kam es zu einem Unfall, bei dem die Mutter starb. – Geschichte: Der Sohn geht zurück nach Santiago de Chile, die Schwester reist ihm nach, kann ihn dort aber nicht finden.

Aufmerksame LeserInnen würden jetzt kommentieren: Aber das stimmt ja gar nicht! – In der Tat ist in „Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ nichts so, wie es scheint. Jedoch darf man nicht verraten, wie es anders (gewesen) sein könnte, weil dieser Schwebezustand – ist es wahr? Ist es nicht wahr? – einen der großen Reize dieses Romans ausmacht.

Der General als Transvestit

Zum Beispiel schreibt Fernández über eine mythische Figur – einen historischen Widerständler gegen die Kolonialherren, dem schlussendlich der Kopf abgeschlagen worden war und dessen Gespenst diesen Kopf seither sucht – in mehreren Varianten. Ebenso verfährt sie mit dem Regierungschef, der die Transvestiten von Mapocho entweder unbeirrt wegbringen und töten hat lassen; oder er hat bei ihnen zuvor selbst Gefallen an Frauenkleidern und Schminke gefunden und sie deshalb töten lassen, weil er von seiner Leibgarde verkleidet erwischt worden ist. (Übertrieben? Man denke nur an den amerikanischen Anwalt, Kommunisten- und Schwulenhasser Roy Cohn, der selbst homosexuell war und an Aids gestorben ist.)

Wahrhaftige Bilder

Jedenfalls bleibt, was in diesem Roman erzählt wird, immer in Schwebe. Aus diesem Zustand schält sich jedoch ein Bild von Lateinamerika und insbesondere von Chile hervor, das wahrhaftig anmutet. Was man über die Kolonialzeit und über die grausame und verbrecherische Herrschaft von Augusto Pinochet weiß, wird durch Fernández‘ Erzählweise mit Bildern ausstaffiert, die man nicht mehr so leicht los wird.

Das mag auch damit zu tun haben, dass der Roman trotz seiner großteils schrecklichen und traurigen Themen eine beinahe schon humorvolle Leichtigkeit verströmt. Und dies mag an Fernández‘ „südamerikanischer“ Art liegen, nicht selbstverliebt, sondern mit Liebe zur Sprache und zum phantasievollen Erzählen zu schreiben.

Für uns Zaungäste

So manches löst sich im Laufe der ausufernden Darstellung auf: Was ist mit dem Vater geschehen? Was hat es mit dem selbstmordgefährdeten Historiker auf sich, der die wahre Geschichte Chiles nicht schreiben darf? Gibt/gab es die Toten im trüben Wasser des Mapocho wirklich? Wird die Schwester ihren Bruder finden? – Doch es kommt in diesem Roman nicht so sehr darauf an, dass Rätsel aufgeklärt werden. Die Geschichten sind meiner Meinung nach dazu da, um die Vergangenheit Chiles zu beschreiben. Sie bieten eine Möglichkeit, um diese unverkrampft aufzuarbeiten, oder – für uns Zaungäste – um dem Faktenwissen eine wesentliche Dimension hinzuzufügen: So lebt(e) es sich in Lateinamerika.

Von Werner Schuster
Infos:

Nona Fernández wurde 1971 in Santiago de Chile geboren und ist seit ihrer Schauspielausbildung als Drehbuchautorin, Schauspielerin und freischaffende Schriftstellerin tätig. Ihre in diversen Erzählbänden veröffentlichten Kurzgeschichten sind, wie auch die Romane „Mapocho“ und „Av. 10 de julio Huamachuco“, preisgekrönt. Sie empfing sowohl 2003 als auch 2008 den chilenischen Literaturpreis Premio Municipal de Literatura in der Kategorie Bester Roman. Im Herbst 2011 war sie mit 24 weiteren AutorInnen unter dem Motto „Die 25 am besten gehüteten Schätze Lateinamerikas“ zur berühmten Buchmesse in Guadalajara eingeladen.