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Er wimmert und quäkt

Vorbemerkung: In den 49 Stunden zwischen 21. 10., 17 Uhr, bis 23. 10., 18 Uhr, hat der Chefredakteur insgesamt 32 Stunden lang eine neue Version der Eselsohren-Datenbank erstellt. Eva Schuster hat das folgendermaßen erlebt:

Donnerstag, 21 Uhr: Wie immer nach der Probe des Beschwerdechors sitzen wir noch in einem Lokal beisammen, blödeln, trinken das eine oder andere Bier, haben es gut. Mein Handy piepst sein SMS-Signal – fast hätt’ ich es nicht gehört, doch es klingt irgendwie alarmierend, also grabe ich es aus den Tiefen meines Rucksacks. „komm heim, die eselsohren sind in gefahr“ steht da – ich springe auf, stoße das Bier meines Nachbarn um, schnappe meinen Rucksack, renne auf die Gasse. Ja, ich habe vergessen zu zahlen, ja, der Wirt hat es bemerkt, ja, es war peinlich, ja, ich habe für die kurze Strecke vom 7. in den 6. Bezirk ein Taxi genommen, nein, der Fahrer war nicht erfreut, ja, ich bin etwas derangiert, als ich die Wohnungstür aufsperre und Werner da stehen sehe. Stehen? Er tanzt – auf Nadeln, blasses Gesicht, schweißnasse Hände, Panik im Blick. Mein Kuss geht ins Leere, weil er wegzuckt. Es muss ernst sein.

Die große, große Angst

Es ist ernst. Er erzählt mir abgehackt etwas von einer neuen mysql-Version, von Backups und Datenbank-Löschen und der große, großen Angst davor, von php und Sidebars links UND rechts und vom Userverhalten („… zu kurz!!! Sind gleich wieder weg!!! Muss was ändern!!!“), und ich verstehe lückenhaft, dass er grad wieder einmal was an seinen Eselsohren zu verbessern versucht (diese Anfälle kommen zyklisch ein bis zweimal pro Quartal), und dass das haarig ist. Ist es immer. Ist es heute Abend besonders.

Ich höre ihn wimmern

Das Kind schläft, ich bin (endlich!) zuhause, er macht sich auf ins Büro, mit zwanzig Büchern, zwei Pölstern und einem Schlafsack ausgerüstet. Ich rate ihm, das Campingbett mitzunehmen, und beobachte nur am Rande amüsiert, wie er sich mitsamt dem „Graffl“ drei Stockwerke runterquält, im Hof alles auf die Rodel schnallt und zweimal wieder zurückkommt, einmal, um sein Handy, das zweite Mal, um seinen Rucksack zu holen. Ich höre ihn wimmern, als sich die Rodel in der Eingangstür verkeilt.

Sanft sinken die Haare zu Boden, die uns beiden in den letzten zehn Minuten ausgegangen sind. Ich schlafe schlecht.

Er hat die Hausschuhe anbehalten

Freitag; 6 Uhr 30: Flora und ich stehen verschlafen in der Küche, als die Wohnungstür krachend auffliegt und Werner wortlos ins Vorzimmer taumelt. Ich frage ihn, was der Stand sei, ob er einen Kaffee, ob er was frühstücken will. „… Tee …“ röchelt er, und „… 12 Uhr wecken …“

Er verschwindet im Schlafzimmer, schließt die Tür, ich stehe mit dem Tee in der Hand da. Ich trinke ihn selber.

Um 10 Uhr 30 erscheint ein zerknitterter Werner in der Küche und macht sich so viel Kaffee, wie in die Kanne reingeht. Wortlos verschwindet er in sein Büro, ohne einen Bissen zu essen, ohne seinen Kaffee getrunken zu haben. Er hat die Hausschuhe anbehalten; es ist ja nicht weit, beruhige ich mich selber. Und trinke den Kaffee, den er vergessen hat.

Heftig scrollend

15 Uhr: Ich halte es nicht mehr aus und beschließe, beim Eselsohren-Büro vorbeizuschauen. Durchs Schaufenster erspähe ich einen heftig scrollenden Mann in seinen Fell-Hausschuhen und dem zerknitterten Gewand vom Vortag. Rund um ihn liegen hunderte dicht mit sechsstelligen Zahlen beschriebene Zettel auf dem Boden. Nur widerwillig reagiert er auf mein wiederholtes Klopfen. Er lässt mich nicht eintreten, spricht durch einen Türspalt mit mir. Ob ich ihm etwas zu essen bringen soll?

Rohes Fleisch will er

Rohes Fleisch will er, im Ganzen, dass er es reißen kann, aber aus artgerechter Tierhaltung, knurrt er und schleicht zurück an den Computer. „Sonderzeichen! Fehler in Zeile 106.245!“ winselt er und heult ein bisschen. Ich stelle ihm einen Napf mit Wasser vor die Tür und gehe ein paar Schritte weiter, auf der Suche nach einem Fleischhauer, der Fleisch aus artgerechter Tierhaltung anbietet. Ich drehe mich um; Werner hat sich zum Wassernapf geschlichen und trinkt hastig, auf allen Vieren, mit gesträubten Nackenhaaren. Es muss bald etwas geschehen.

Wellen der Panik verbreiten sich bis auf die Gasse

Nachdem ich ihn gefüttert habe, gehe ich heim, wohl wissend, dass er auch heute im Büro übernachten wird. Ich hoffe, dass er daran denkt, einzuheizen und aufs Klo zu gehen. Meine Anrufe werden nicht angenommen. Meine Tochter verlangt ihren Vater zu sehen, und wir schleichen uns in der Dunkelheit ans Büro heran und beobachten die zitternde Gestalt hinter dem Computer, nur beleuchtet vom fahlen Licht des Bildschirms. Zahlenkolonnen spiegeln sich in der Brille, Wellen der Panik verbreiten sich bis auf die Gasse. „Alles wird gut,“ tröste ich meine Tochter, doch ich weiß, es ist schwer zu glauben.

„… zu 70 Prozent …“

Samstag, 10 Uhr 30: Werner ist bis jetzt nicht aufgetaucht. Ich haste zum Büro und wage es kaum, ihm seine Fleischration durch den Türspalt zu reichen. Zwischen Tierlauten und Gewinsel kann ich mühsam die Worte „… zu 70 Prozent …“ verstehen. Ich weiß nicht, was das heißen soll, hoffe aber, dass das eine gute Nachricht ist. Ich gehe wieder heim zu meiner besorgten Tochter. „Wir müssen jetzt ganz stark sein!“ sage ich zu ihr und kippe einen Cognac. Ich kann mich gerade noch zurückhalten, ihr ebenfalls einen anzubieten.

SONDERZEICHEN

22 Uhr 30: Ich schleiche mich verstohlen ans Büro heran. Werner hat seltsame Zeichen und Zahlen überall an die Wände und Scheiben gesprüht. Dazwischen steht immer wieder das Wort „Sonderzeichen“. Er lebt aber noch und hüpft gerade affengleich auf seinem Bürostuhl auf und ab und schreit ein bisschen. Dann kauert er sich wieder hin. Ich glaube, er scrollt. Ich kann nichts für ihn tun und gehe heim. Schlafen kann ich nicht.

Ich greife zu härteren Bandagen

Sonntag, 11 Uhr: Kalt und verlassen das Bett neben mir, grau und vernieselt das Wetter, grantig und patzig das Kind; meine Dämme brechen, ich verzweifle zusehends, ich beschließe mit letzter Kraft, zu härteren Bandagen zu greifen. Herrisch hämmere ich an die Eingangstür zum Eselsohren-Büro. Werner ist nirgends zu sehen. Doch der Computer läuft; weit kann er also nicht sein, denn seinen Computer alleine im Büro zu lassen ist nach Mord und Totschlag und ein Buch anpatzen wohl die schlimmste optionale Sünde auf dieser Welt.

„… 95 Prozent … 95,5 Prozent … 96 Prozent …“

Etwas huscht in mein Blickfeld, springt verwildert an der Fensterscheibe hoch und öffnet dann ungeschickt die Türe einen Spalt. „Schluss jetzt, hör sofort auf mit dem Wahnsinn und komm heim fressen und schlafen!“ schimpfe ich, hoffend auf einen Restfunken an Autoritätshörigkeit in diesem zerlumpten Wesen, das japsend und sabbernd „… 95 Prozent … 95,5 Prozent … 96 Prozent …“ ächzt. Werner springt davon, stößt sich von der Wand ab und landet auf seinem Schreibtischsessel, dreht sich einmal um die eigene Achse und verschwindet hinter seinem Bildschirm. Es scheint ihm besser zu gehen, aber ich kann nicht mehr.

„Ich habe Ketchup auf deine Lieblingsbücher geschmiert“

„Ich habe das Kind nach Marokko verkauft und die Katzen ertränkt, deiner Mutter gesagt, dass du bisexuell bist und Ketchup auf deine Lieblingsbücher geschmiert!“ Ich hoffe, dass er mir jetzt ein wenig Aufmerksamkeit widmet. „… BITTE in Ruh … ein anderes Mal …“ quäkt Werner, wirkt aber dabei ganz fröhlich, wahnsinnig zwar, aber deutlich entspannter. Mit etwas Hoffnung im Herzen gehe ich heim. Flora darf einen Schluck Cognac machen. Er schmeckt ihr nicht. Mit einem Rest mütterlicher Fürsorge finde ich das erleichternd. Ich häkle ein Spitzendeckerl, um mich abzulenken.

„Ich hab’s getan! Ich hab’s getan! Ich hab’s getan!“

Sonntag, 2 Uhr 30: Atmen neben mir! Werner ist zu Hause, in seinem Bett, er schläft und atmet wie ein Mensch! Er sieht auch nicht mehr so behaart aus. Erleichtert sinke ich in meinen Polster zurück und denke: „Es wird tatsächlich alles gut!“

Montag, 7 Uhr: Werner grinst. Sein Blick ist irr, seine Augen glänzen unnatürlich, er macht mir Angst. „Ich hab’s getan!“ sagt er immer wieder, „Ich hab’s getan!“ Er sagt es im Bad, er sagt es im Klo, ersagt es, während er sich einen Pullover über den Kopf zieht.

Der Anfall ist am Abklingen

In der Arbeit erreichen mich etwa 50 E-Mails mit dem Betreff „Ich hab’s getan!“ und dem Inhalt „Ich hab’s getan!“. Ich fürchte mich, abends heimzukommen. Doch als ich die zwei Kilo rohes Fleisch vor Werner auf den Tisch lege, schiebt er sie beiseite und fragt: „Gibt‘s nix Ordentliches zu essen? Kannst du mir eine Gemüsesuppe machen?“ Da weiß ich, dass der Anfall am Abklingen ist. Als Werner, zwar noch immer irre grinsend, aber ganz friedlich, um halb zehn schlafen geht, fällt zum ersten Mal seit drei Tagen die Anspannung von mir ab. Als aus dem Schlafzimmer gedämpft „Ich hab’s getan!“ ertönt, reißt es mich zwar ein bisschen, aber ich bin mir sicher, dass wir es überstanden haben – bis zum nächsten Mal.

Das Fleisch habe ich vorsorglich eingefroren.

Von Eva Schuster