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Hahn, Anna Katharina: Kürzere Tage

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

buchcover
Erschienen bei Suhrkamp (Hardcover 2009, Taschenbuch 2010).
Inhalt:

Mustermütter und Karrierefrauen, Eurythmie und Hysterie, Alleinerziehende und Problemkinder, Wohlstand und Verwahrlosung. Was geschieht, wenn man das Leben, das man immer haben wollte, endlich führt? Wenn die Kompromisse in Zwang umschlagen und das Glück sich nicht einstellt? In ihrer literarisch bestechenden Bestandsaufnahme erzählt Anna Katharina Hahn von Frauen, deren Lebensraum zum Käfig geworden ist – und von einem Jungen, der ausbricht. (Pressetext)

Kurzkritik:

Beschrieben ist das in einer nüchternen, gewählten und wortsicheren Sprache, die meinem Dafürhalten nach mehr Tiefe suggeriert als tatsächlich vorhanden ist. Denn die Figuren sind an sich sehr klischeehaft und die plötzlich einsetzenden, dramatischen Ereignisse – nach dem langen, realistischen „Vorspiel“ – in ihrer Dichte unglaubwürdig.

Und ich frage mich, was Franz Schuh daran dermaßen begeistert hat, dass er „Kürzere Tage“ im WDR als einen der besten deutschsprachigen Romane gepriesen hat.

Besprechung:

Plötzlich dramatisch

„,Kürzere Tage‘ ist einer der besten deutschsprachigen Romane – unserer Zeit sowieso, aber auch überhaupt“, meint der von mir geschätzte Franz Schuh, und ich hätte das Buch ohne diesen Hinweis wohl nicht gekauft, wiewohl ich bei solchen Superlativen an sich eher vorsichtig werde.

Nun ist „Kürzere Tage“ gewiss kein schlechter Roman, aber meiner Meinung nach nicht so gut, wie Schuh in einschätzt. (Ich hätte gerne seine ganze Besprechung gesehen, weil Zitate ja stets verkürzen, doch habe ich sie leider nicht gefunden.)

Das Verlangen nach einer Zigarette

Der Roman beginnt jedenfalls so: „Judith raucht hastig, mit dem Rücken gegen die Wohnungstür gelehnt. Sie lässt den Rauch tief in ihre Brust einströmen und atmet ihn durch die Nasenflügel wieder aus. Das Verlangen nach einer Zigarette, schlimmer als der Druck einer vollen Blase, beherrscht schon den ganzen Tag.“

Judith ist Mutter zweier Kinder, hat ihre Angst vor dem Versagen seit ihrem Kunstgeschichtestudium (ohne Abschluss) mit Tabletten bekämpft. Und sie ist einfach in die Wohnung ihres Ex-Freundes Klaus eingedrungen, nachdem ihr alles, inklusive Beziehung zu einem machohaften Sören, über den Kopf gewachsen war. Jetzt ist sie mit Klaus verheiratet und immer noch tablettensüchtig, obwohl sie in der Waldorfpädagogik einen gewissen Halt gefunden hat.

Hochgearbeitet

Leonie wiederum hat sich ihren Simon am letzten Schultag gekrallt. Die studierte Romanistin arbeitet in einer Bank, während sich ihr Mann aus ärmeren Verhältnissen zum sehr beschäftigten Vertriebsleiter hochgearbeitet hat. Auch sie haben zwei Kinder.

Bis zur Hälfte des Romans wechselt Hahns personale Erzählperspektive zwischen diesen beiden Frauen hin und her, man lernt ihr relativ ereignisloses, wunschloses Unglück in gutbürgerlicher Atmosphäre kennen.

Auf nach Estland

Noch kennen sich die beiden Frauen nur vom Sehen, und dann wird aus der Sicht des gesellschaftlich benachteiligten Marco erzählt, der sich von seiner übergewichtigen, allein erziehenden Mutter vernachlässigt vorkommt. Ihr vorheriger Freund, der Este Eino, hat ihn ernst genommen, der neue ist autoritär und verprügelt ihn. Marco beschließt, sich auf die Suche nach Eino zu machen, der in seine Heimat zurückgegangen ist. Doch dafür braucht er Geld.

Dann erleben wir dieselbe Welt aus der Sicht der alten Frau Luise, die mit ihrem ebenfalls gebrechlichen Mann Wenzel in derselben Gegend von Stuttgart wohnt.

Und dann, plötzlich –

Und dann läuft plötzlich alles aus dem Ruder, in zwei aufeinander folgenden Nächten begeht eine der Frauen beinahe einen Seitensprung, kommt die andere dahinter, dass ihr Mann sie vielleicht betrügt, stirbt jemand – und Marco unternimmt einen Raubüberfall. (Auf)lösungen gibt es keine. Jede/r kann sich selbst ausmalen, wie diese Leben weitergehen.

Beschrieben ist das in einer nüchternen, gewählten und wortsicheren Sprache, die meinem Dafürhalten nach mehr Tiefe suggeriert als tatsächlich vorhanden ist. Denn die Figuren sind an sich sehr klischeehaft und die plötzlich einsetzenden, dramatischen Ereignisse – nach dem langen, realistischen „Vorspiel“ – in ihrer Dichte unglaubwürdig.

D‘accord

Und ich frage mich, was Franz Schuh daran dermaßen begeistert hat, dass er „Kürzere Tage“ im WDR als einen der besten deutschsprachigen Romane gepriesen hat. Mit Marion Siems‘ Urteil (in „Wegzeichen“) gehe ich jedoch weitgehend d‘accord: „Neben der kunstvollen, komplexen Verstrickung der verschiedenen Handlungsabläufe beeindrucken vor allem die detaillierten, sich einander ergänzenden Milieubeschreibungen aus der jeweiligen Perspektive der Protagonisten. Nach dem Lesen des Romans ist der eigene Blick auf die unmittelbare Welt wieder geschärft.“

Von Werner Schuster
Infos:

Anna Katharina Hahn, geboren 1970, studierte Germanistik, Anglistik und Volkskunde in Hamburg, wohnte einige Jahre in Berlin und lebt heute als Schriftstellerin in Stuttgart. Veröffentlichte mehrere Aufsätze über spätmittelalterliche Historienbibeln. 2000 erschienen die Erzählungen „Sommerloch“.

Der mit 10.000 Euro dotierte Clemens Brentano Förderpreis für Literatur der Stadt Heidelberg, der 2005 in der Sparte Erzählung vergeben wird, geht an Anna Katharina Hahn. Sie erhält den Preis für ihren Erzählband „Kavaliersdelikt“.

Mehr über Anna Katharina Hahn [5] bei Wikipedia.