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Shriver, Lionel: Wir müssen über Kevin reden

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Buchcover
Roman
Erschienen als Taschenbuch 2010 bei Ullstein,
als Hardcover 2006 bei List.
Aus dem Amerikanischen von Christine Frick-Gerke und Gesine Strempel
Originalausgabe: „We Need to Talk About Kevin“, 2003
Inhalt:

Evas Sohn Kevin hat eine furchtbare Gewalttat begangen: In der Schule hat er mehrere Menschen getötet. Von allen verurteilt und von jetzt an auf sich selbst gestellt, findet Eva den Mut, sich in aller Offenheit den quälenden Fragen auszusetzen: Hätte sie ihr Kind mehr lieben sollen? Hätte sie das Unglück verhindern können? Hätte sie ihre Ehe retten können? (Pressetext)

Kurzkritik:

Was ist stärker: Charakter oder Erziehung? Im Prinzip läuft das 550-Seiten-Buch in Briefform auf diese Frage hinaus. Und beantwortet sie nicht. Sondern wartet – nach einem vielleicht etwas langatmig geratenen Mittelteil – mit einem Schluss auf, der einem gewissermaßen den Boden unter den Füßen wegzieht.

Besprechung:

Wir müssen über Kevin nachdenken

Dieser Roman ist nicht deshalb unangenehm zu lesen, weil er das Thema „Schulmassaker“ abhandelt, sondern weil Lionel Shriver eine Mutter beschreibt, die ihren unausstehlichen Sohn nicht lieben konnte. Aber kann dass der Grund dafür sein, dass Kevin ein paar seiner MitschülerInnen im Turnsaal eingesperrt und sie ermordet hat?

In Briefen an ihren Mann Franklin versucht Eva Khatchadourian den Ursachen des Massakers auf die Spur zu kommen.

Kevin ist böse, Kevin ist normal

Sie schildert Kevin als Soziopathen mehr oder minder von Geburt an, der mit sich und seiner Umgebung nichts anzufangen wusste außer seine Mitmenschen zu terrorisieren. Franklin (den wir – wie Kevin auch – allerdings nur aus Evas Sicht beschrieben bekommen) dürfte seinen Sohn hingegen als ziemlich normal erlebt und nicht verstanden haben, dass Eva Kevin ständig als bösartig hingestellt hat.

Wir haben es, ähnlich wie bei John Irving (obwohl man Shriver mit ihm ansonsten überhaupt nicht vergleichen kann), mit sehr festen Charakteren zu tun: Eva erlebt Kevin als böse, Franklin erlebt ihn als gut. Die später geborene Tochter Celia wird von beiden als (zu) naiv angesehen.

Eva und Franklin waren reich

Ansonsten war Eva vor dem Massaker erfolgreiche Leiterin eines Reisebuch-Verlages und ist dementsprechend viel in der Welt herumgereist. Obwohl eine Liberale, war sie von dem an sein Land glaubenden, die Republikaner wählenden Franklin (einem Location-Scout) angetan.

Außerdem waren Eva und Franklin reich, sodass sie sich die Prozesse auch leisten konnten, in denen sie als Eltern des Attentäters zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Jetzt allerdings arbeitet Eva als Reisebüro-Angestellte und lebt zurückgezogen, außer wenn sie Kevin im Gefängnis besucht.

Berühmt werden

Warum hat Kevin getan, was er getan hat? Er selbst behauptet kurz nach der Tat, dass er damit berühmt werden wollte, ist sich dessen ein paar Jahre später aber nicht mehr so sicher.

Shriver spielt gewissermaßen mit den Möglichkeiten: Ist Eva verantwortlich, weil sie Kevin abgelehnt hat? Oder Franklin, weil er ihn idealisiert hat? Was hätte geschehen müssen, damit Kevin seine Tat nicht akribisch geplant und ausgeführt hätte?

Was ist stärker: Charakter oder Erziehung? Im Prinzip läuft das 550-Seiten-Buch in Briefform auf diese Frage hinaus. Und beantwortet sie nicht. Sondern wartet – nach einem vielleicht etwas langatmig geratenen Mittelteil – mit einem Schluss auf, der einem gewissermaßen den Boden unter den Füßen wegzieht.

Von Werner Schuster
Infos:

Über Lionel Shriver [5] bei Wikipedia (Englisch).