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Zizek, Slavoj: Auf verlorenem Posten

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Buchcover Auf verlorenem Posten von Zizek
Sachbuch
Erschienen 2009 bei Suhrkamp
Aus dem Englischen von Frank Born
Originalausgabe: „In Defence of Lost Causes“, 2008
Inhalt:

Der Kapitalismus, so Slavoj Žižek, gleiche einer Comicfigur, die stolz über den Dachfirst hinaus ins Leere läuft – um dann jäh abzustürzen. In seinem neuen, kämpferischen Buch setzt sich Žižek mit den Perspektiven der Linken auseinander: Er entlarvt die Widersprüche des Neoliberalismus, diskutiert die Positionen von Alain Badiou und Antonio Negri und erklärt, warum wir angesichts von Wirtschaftskrise, Biotechnologie und Umweltkollaps der Diktatur des Proletariats eine neue Chance geben sollten. Dabei erweist er sich wieder einmal als das externe Hirn seiner Leser: Er sieht die Filme, registriert die Nachrichten und macht sich darüber die Gedanken, für die wir keine Zeit haben. (Pressetext)

Kurzkritik:

Slavoj Žižek ist ein verständlicher (!), witziger (!!), leidenschaftlicher (!!!) und nicht-überheblicher (!!!!) Philosoph. In „Auf verlorenem Posten“ setzt er sich mit den Perspektiven der Linken auseinander.

Selbst wenn man seine Ansichten nicht teilt, so sollte man sich doch einmal das Vergnügen gönnen, ihm bei seinen gedanklichen Rösselsprüngen zu begleiten, aus welchen immer wieder überraschende Schlussfolgerungen hervorgehen.

Er vertritt Positionen, die man einem Linken nicht zutrauen würde. Weil es ihm, unterstelle ich jetzt einmal, nicht um Ideologie geht, sondern um Erkenntnis. Und er traut nicht einmal seinen eigenen Vorurteilen.

Besprechung:

Rösselsprünge

Slavoj Žižek ist ein verständlicher (!), witziger (!!), leidenschaftlicher (!!!) und nicht-überheblicher (!!!!) Philosoph. In „Auf verlorenem Posten“ setzt er sich mit den Perspektiven der Linken auseinander.

Selbst wenn man seine Ansichten nicht teilt, so sollte man sich doch einmal das Vergnügen gönnen, ihm bei seinen gedanklichen Rösselsprüngen zu begleiten, aus welchen immer wieder überraschende Schlussfolgerungen hervorgehen.

Und er vertritt Positionen, die man einem Linken nicht zutrauen würde. Weil es ihm, unterstelle ich jetzt einmal, nicht um Ideologie geht, sondern um Erkenntnis.

Über den Tellerrand

Er betreibt (in diesem Buch) jetzt vielleicht nicht reine Wissenschaft, dazu springt er wohl zu viel hin und her zwischen Polemik und Behauptungen. Jedenfalls dürfte er seinen Tellerrand, bildlich gesprochen, schon lange nicht mehr bemerkt haben, weil er sich nicht nur für Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Soziologie und Psychologie interessiert, sondern auch fürs Alltägliche.

Konkret verfolgt Žižek in „Auf verlorenem Posten“ um drei Ziele:

Als erstes die Diagnose unseren Status quo in diesem einmaligen gesellschaftlichen und ideologischen Augenblick des scheinbaren Triumphes es Kapitalismus; anschließend werden wir einige exemplarische Antworten der Linken auf das Dilemma kritisch diskutieren; und schließlich wollen wir uns auf jene Antagonismen konzentrieren, die den Kommunismus nach wie vor notwendig machen, und damit die Umrisse einer neuen linken Strategie skizzieren.

Wie wild sind die Wilden?

Auf dem Weg dorthin traut er keinem Vorurteil, schaut genau hin und präsentiert immer wieder verblüffende, den von Medien transportierten „Wahrheiten” widersprechende Aussagen. Im Kongo etwa: entdeckt er „hinter der Fassade ethnischer Konflikte die Konturen des globalen Kapitalismus.“ Jeder Warlord unterhält „Geschäftsverbindungen mit einem ausländischen Unternehmen, das (in der Hauptsache) die Bodenschätze der Region ausbeutet. – Das Unternehmen erhält die Abbaurechte, ohne Steuern bezahlen zu müssen, der Warlord bekommt Geld.“

Vergesst die angeblich wilden Bräuche vor Ort! Wenn man die ausländischen High-Tech-Firmen einmal aus der Gleichung streicht, fällt das ganze Kartenhaus der ethnischen Konflikte, die vorgeblich von alten Leidenschaften angetrieben werden, in sich zusammen.

Wie es seitens des Verlages so schön heißt: Žižek „sieht die Filme, registriert die Nachrichten und macht sich darüber die Gedanken, für die wir keine Zeit haben.“

Hitler, Stalin, Bush und Saddam
in ekstatischer Brüderlichkeit

Und selbst wenn man folgende Polemik über den letzten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie schon kennt (wenn sie denn eine ist), bleibt sie amüsant: Dieses Stück, schreibt Žižek,

ist ein echter „leerer Signifikant“, es kann für alles oder nichts stehen. In Frankreich erhob Romain Rolland es zu einer humanistischen Ode an die Brüderlichkeit aller Menschen „die Marseillaise der Menschheit“); 1938 wurde es als Höhepunkt der Reichsmusiktage aufgeführt, später zu Hitlers Geburtstag; im China der Kulturrevolution in einer Atmosphäre des fortschreitenden Klassenkampfes rehabilitiert, während es im heutigen Japan Kultstatus erlangt hat, wo seine vermeintliche Botschaft „Freude durch Leid“ mit der Gesellschaftsstruktur verwoben ist; bis Ende der 1960er Jahre, der Zeit also, als West- und Ostdeutschland bei Olympischen Spielen noch eine gemeinsame Mannschaft stellten, wurde das Lied für deutsche Goldmedaillengewinner gespielt und das rassistische weiße Regime von Ian Smth in Rhodesien, das zur selben Zeit seine Unabhängigkeit erklärte, um die Apartheid beibehalten zu können, machte es zur Nationalhymne. Selbst Abimael Guzmán, der heute inhaftierte Anführer der Bewegung „Leuchtender Pfad“, nannte auf die Frage, welche Musik er möge, den vierten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie. Wir könnten uns also ohne weiteres eine fiktive Aufführung vorstellen, bei der sämtliche Erzfeinde, von Hitler bis Stalin, von Bush bis Saddam, für eine kurze Zeit ihre Widrigkeiten vergessen und gemeinsam an einem magischen Moment ekstatischer Brüderlichkeit teilhaben –

Dies „lehrt“ uns Žižek auf jeden Fall: Man soll nicht alles für bare Münze nehmen, nicht einmal die offizielle Europahymne.

Von Werner Schuster
Infos:

Slavoj Žižek wurde 1949 in Ljubljana, Slowenien geboren und wuchs auch dort auf. Er studierte Philosophie und Soziologie an der Universität in Ljubljana und Psychoanalyse an der Universität Paris VIII. Seit den achtziger Jahren hat Žižek zahlreiche Gastprofessuren im Ausland inne, unter anderem an der Tulane University, New Orleans (1993), der Cardozo Law School, New York (1994), der Columbia University, New York (1995), in Princeton (1996) und an der New School for Social Research, New York (1997). Von 2000 bis 2002 leitete er eine Forschungsgruppe am kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.

Über Slavoj Žižek [5] bei Wikipedia.