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Lippegaus, Karl: Die Stille im Kopf


Interviews und Notizen über Musik

E-Book
893 KB (272 Seiten)
Erschienen 2012 bei Nieswand
(Überarbeitete Neuauflage von 1991)

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]
Inhalt:

Mit einem Gespür für besondere Momente in der Musik schrieb Karl Lippegaus in seinem Debütwerk von seinen Begegnungen mit großen Komponisten und Interpreten aller Sparten und collagiert – wie in seinen Radiosendungen – die Interviews mit persönlichen Erlebnissen und handverlesenen Zitaten über Musik. (Pressetext)

Kurzkritik:

Als Pendent zum „musician‘s musician“ ist Karl Lippegaus so etwas wie ein „musician‘s journalist“ – und er bleibt dabei für die Leser oder Hörer verständlich.

Er fragt Musiker nicht, wie es ihnen geht und was sie vom Leben oder von der Politik halten, sondern er spricht mit ihnen darüber, wie es ist, Musiker zu sein, und warum sie gerade jetzt gerade diese Musik machen.

Besprechung:

Musician‘s Journalist

Über Musik zu reden oder zu schreiben ist schwierig. Ich weiß das, ich war lange Zeit Musikkritiker.

Meistens behilft man sich damit, die Technik der MusikerInnen zu kritisieren oder man handelt Außermusikalisches ab, beschreibt die Stimmung, die ein Werk auslöst, oder die Bedeutung, die man ihm unterstellt. Wenn man es sich leicht machen will, schreibt man über das Publikum oder die Bühnenshow.

Der Musik-Journalist Karl Lippegaus macht es sich schwer. Er fragt Musiker nicht, wie es ihnen geht und was sie vom Leben oder von der Politik halten, sondern er spricht mit ihnen darüber, wie es ist, Musiker zu sein, und warum sie gerade jetzt gerade diese Musik machen.

Alt, aber gut

Als Pendent zum „musician‘s musician“ ist Lippegaus so etwas wie ein „musician‘s journalist“ – und er bleibt dabei für die Leser oder Hörer verständlich. – Man muss besser sagen: Er sprach. Denn dieses Buch ist gut 20 Jahre alt und wurde jetzt als E-Book wieder aufgelegt. Das tut der Sache im Prinzip keinen Abbruch, auch wenn man das Werk vielleicht um kurze Musiker-Biografien oder Links dazu ergänzen hätte können.

Denn nicht alle Musiker müssen so bekannt sein wie Miles Davis, Paco de Lucia, Bobby McFerrin, Peter Gabriel oder Leonard Cohen. Und vielleicht hat nicht jede/r Musikbegeisterte schon etwas von John Hassell [5] (US-amerikanischer Trompeter und Komponist der Fusionsmusik), Robert Wyatt [6] (Soft Machine), Donald Fagan [7] (Steely Dan), Art Pepper [8] (amerikanischer Altsaxophonist) und John Francis III Pastorius [9] (E-Bassist u.a. bei „Weather Report“) gehört.

Zum Beispiel Brian Eno

Oder von Brian Eno [10]. Von dem hat zwar sich schon jede/r etwas gehört, aber vielleicht ist er nicht allen ein Begriff. Deshalb picke ich ihn heraus, den Mitbegründer von „Roxy Music“, Erfinder der Ambient Music [11], Produzenten/Remixer/Musiker u.a. von/auf Alben von Robert Fripp, Ultravox, David Bowie, Talking Heads, U2, John Cale, Depeche Mode, Paul Simon, Coldplay.

Im Buch sind jedenfalls zwei Interviews mit Eno zu finden. In der Folge einige Ausschnitte:

Als ich anfing, mich für Musik zu interessieren, musste ich wirklich Abenteuer bestehen, um das Gesuchte zu finden. Zum Beispiel diese mühsame Suche nach einem Radiosender, der gute Musik spielte. Oder winzige Plattenläden aufspüren, die ausgefallene Platten führten. Heute scheint dagegen die Hauptarbeit darin zu bestehen, sich die eigenen Sinne nicht zu verstopfen.

Das Studio ist mein Instrument

Das Studio ist für mich im Gegensatz zu vielen anderen Musikern kein Ort, an dem ich vorgefertigte Ideen bloß reproduziere. Das Studio selber ist mein Instrument. Das ist eine Art, wie ich Musik mache. Wenn es diesen Raum nicht gäbe, existierte meine Musik nicht.

Für manche Projekte ist es wichtig, dass man sie alleine durchführt. Aber ich habe zwei bis drei Musiker gefunden, mit denen ich mich sehr gut verstehe. Es gibt keinerlei Kommunikationsprobleme zwischen uns. Man muss so viel Vertrauen haben, dass man auch mal die Führung übernimmt. Und man sollte bescheiden genug sein, einem anderen die Spitze zu überlassen, wenn er die bessere Idee hat.

Sich treiben lassen

Wenn man ein Stück anfängt, hat man erstmal eine Art Konzept davon, wo man hinkommen möchte. Man stellt sich den Weg vor, den man einschlagen will, um irgendwohin zu gelangen. Dann fängt man an und stößt bald auf eine Sperre. Es geht nicht weiter, oder eine neue Sache beansprucht plötzlich dein ganzes Interesse. Man geht also seitlich weiter. Dann kommt man irgendwohin, und dieser Ort gefällt einem. Aber man kann nicht genau erkennen, wo man jetzt ist. Es ist auf jeden Fall nicht der Ort, den man ursprünglich angesteuert hatte.
Dann fängt man ein neues Stück an. Und wieder passiert dasselbe. Schließlich sieht man sich diese ganzen Arbeiten an. Und man stellt fest, dass sie erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen, obwohl einem das nie vorher bewusst war.
Jedenfalls lassen sich die meisten Künstler, die mit vorgefertigten Ideen arbeiten, nicht in dieser Weise treiben. Sie zwingen sich selber immer wieder zurück zum Ausgangspunkt. Also kriegen sie am Ende nur eine perfektere Version dessen, womit sie angefangen haben. Geht man den anderen Weg, dann stößt man auf neue Geheimnisse, neue Dinge, die einem wesentlich mehr sagen.

Eine ganz anderen Einstellung

Wir befinden uns in einer Situation, in der die Menschen Musik mit einer ganz anderen Einstellung hören, als von den Komponisten angenommen wird, die diese Musik machen. Die Mehrzahl der Komponisten arbeitet noch immer mit der Voraussetzung, dass Musik auch jetzt noch gehört wird, wie man sie früher hörte, als die Menschen sich vor ein Orchester oder vor ihre Lautsprecherboxen setzten und man noch genau hinhörte.
Tatsächlich ist das aber heutzutage einfach nicht mehr die gängige Art, wie man Musik hört.

Ein Fehlschlag

Wenn ich eine Videoshow machen würde, für die sich niemand interessiert, dann wäre das für mich ein Fehlschlag. Ich könnte nicht glauben, dass ich in dem Fall was Gutes gemacht hätte. Die meisten Künstler im Bereich der Bildenden Kunst sehen das anders. Sie sagen, dass die Leute lernen müssen, ihre Werke zu verstehen und sich ihre Sicht der Dinge anzueignen.
Ich glaube nicht, dass man ihnen die eigene Sicht der Dinge aufdrängen sollte. Der Künstler sollte vielmehr selber ein Verständnis dafür entwickeln, wie Wahrnehmung funktioniert, um dann etwas zu schaffen, was dazu in einer Beziehung steht. Das ist es, was Popmusiker tun. Ich halte sowas nicht für dumm oder kommerziell, sondern nehme das ernst.

Eine praktische Wirkung

Monet – oder war‘s Matisse? – hat über seine Malerei gesagt, er wollte Bilder malen, die dem müden Menschen gefallen, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kommt. Mir gefällt eine solche Art der Zielsetzung besser, als wenn jemand sagt, er wolle nur große Kunstwerke schaffen. Mir gefällt es, wenn jemand was herstellen will, das eine praktische Wirkung auf das Leben anderer Menschen hat.

Ja, solche Antworten bekommt nur, wer sich in der Materie auskennt, kluge Fragen stellt – und zuhören kann. Karl Lippegaus konnte und kann das.

Von Werner Schuster

P.S.: Das Buch ist so gut, dass es mich nicht gestört hat, dass man manchmal nicht weiß, wer gerade spricht, weil Lippegaus nicht immer direkt fragt, sondern auch gerne mal was erzählt. Da wäre „Musiker N.N.:“ oder eben „Lippegaus“ vor den entsprechenden Absätzen hilfreich gewesen.
Und es hätte auch nicht geschadet, anzuführen, in welchem Jahr die Interviews entstanden sind, um diese in einen „historischen“ Kontext einordnen zu können. (Von den meiner Meinung nach fehlenden Kurz-Biografien habe ich schon geschrieben.)

P.P.S.: Als Bonusmaterial wurden dem E-Book 12 Interviews (in englischer Sprache) aus den Archiven des Autors beigefügt: Astor Piazzolla, Lee Konitz, Jack DeJohnette, Cassandra Wilson, Joshua Redman, Michel Portal und andere erzählen über ihr Schaffen und sind im Original zu lesen.

Infos:

Karl Lippegaus produzierte unzählige Sendungen für die ARD und schreibt aktuell über Jazz für die Süddeutsche Zeitung. 1995 erhielt er den Deutsch-Französischen Journalistenpreis für ein zweistündiges WDR 3-Feature über die Banlieues von Paris und Marseille. Sein jüngstes Buch ist eine Biografie über John Coltrane. 2012 übersetzte und bearbeitete er die erste Biografie über den Jazzpianisten Michel Petrucciani, „Leben gegen die Zeit“. Seine Radiosendungen sind regelmäßig in WDR und Deutschlandfunk zu hören.

Mehr über Karl Lippegaus [12] bei Wikipedia.

Zum Nieswand-Verlag [13]