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Tolstoi, A. K.: Die Familie des Wurdalak

Erzählung
Taschenbuch, Hörbuch
176 Seiten
Deutsch, Französisch
Erschienen 2012 bei Boder
Aus dem Französischen von Stéphanie Queyrol
Originalausgabe: „La Famille du Vourdalak”

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Inhalt:

Eine verhängnisvolle Reise: Der Marquis d’Urfé begibt sich im Jahre 1759 auf eine verhängnisvolle Dienstreise in den finsteren Osten Europas. Als er in einer Herberge übernachten muss, hindern ihn die Umstände daran, wieder aufzubrechen und er muss für einige Wochen dort ausharren … (Pressetext)

Kurzkritik:

Völlig zu Recht bezeichnet die Übersetzerin Stéphanie Queyrol dieses Werk als „kleinen, ungeschliffenen Diamanten“. Bei allen „Fehlern“ wird man die 45 Seiten dieser um 1840 entstandenen Erzählung atemlos verschlingen, – selbst wenn man schon viele Vampirgeschichten gelesen oder gesehen hat.

Besprechung:

Lustvoll fürchten

Völlig zu Recht bezeichnet die Übersetzerin Stéphanie Queyrol dieses Werk als „kleinen, ungeschliffenen Diamanten“. Bei allen „Fehlern“ wird man die 45 Seiten dieser um 1840 entstandenen Erzählung atemlos verschlingen, – selbst wenn man schon viele Vampirgeschichten gelesen oder gesehen hat.

Das hat einmal damit zu tun, dass „Die Familie des Wurdalak“ kein direktes Vorbild hat: Den Vampirroman gab es zur Entstehungszeit noch nicht. Und Nachfolger gibt es meines Wissens auch keinen.

Großes Kino

Auf der anderen Seite dürfte Tolstoi seine Erzählung gar nicht für die Veröffentlichung bestimmt haben. Deswegen mutet sie auch so roh an. Aber: Würden doch alle Erstfassungen so kraftvoll sein! Der „Wurdalak“ packt eine/n gewissermaßen im Zentralnervensystm, ist wie ein Film, den man gefesselt ansieht, ohne nachdenken zu können oder zu wollen.

Ein Marquis begibt sich auf eine Dienstreise, muss in einem serbischen Dorf Station machen und gerät an eine seltsame Familie. Die erwartet ihren Vater zurück, der auf der Jagd nach einem türkischen Räuber gegangen ist und zum Abschied gesagt hat:

„Gekommen, euer Blut zu saugen“

(…) falls ich zurückkomme, nachdem (…) zehn Tage abgelaufen sind, (…) befehle ich euch zu vergessen, dass ich euer Vater bin, und mich mit einem Pfahl aus Espenholz zu durchbohren, (…) denn ich werde nur noch ein verfluchter Wurdalak sein, der gekommen ist, euer Blut zu saugen.

Selbstverständlich kehrt er erst nach zehn Tagen zurück, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Der Marquis wird unweigerlich Zeuge – er kann den Ort nicht verlassen, weil die Donau Eis mit sich führt. Und er verliebt sich in die Haustochter.

Ein ausgestorbenes Dorf

Als er abreisen kann, ist der Vater jedenfalls unter der Erde. Und als er nach seiner Mission zurückkehrt, ist das ganze Dorf ausgestorben. Denn die Wurdalaks „saugen vorzugsweise das Blut ihrer nächsten Familienmitglieder und das ihrer engsten Freunde, die sobald tot, selbst Vampire werden“.

Und da sich der Marquis bei seinem ersten Besuch in die Haustochter verliebt hatte, zählt er zu den engsten Freunden …

Großartig fürchterlich

Und es ist egal, dass unser Marquis diese Bgebenheit in einer Rahmenhandlung als alter Mann selbst erzählt. Wir wissen in Filmen ja eigentlich auch, dass der Held alles überleben wird, und fürchten trotzdem um ihn.

Diese Erzählung hat, wie geschrieben, 45 Seiten und es wäre eigentlich schade drum, hätte Tolstoi die Zeit gefunden, sie zu einem ausführlicheren Roman umzuarbeiten – oder sie überhaupt zu bearbeiten. Denn sie ist, so wie sie ist, großartig fürchterlich.

Mit aufschlussreichen Erläuterungen

Und es ist einem auch gleichgültig, dass die Übersetzerin während ihrer Arbeit dramaturgische Fehler (im Zeitablauf) darin entdeckt hat. Nicht egal braucht einem zu sein, was Queyrol sonst noch herausgefunden hat: In Erläuterungen, die beinahe so viele Seiten umfassen wie der „Wurdalak“, verschafft sie einen Überblick über die Vampirliteratur (um die Entstehungszeit herum) und über die direkten Einflüsse auf die Erzählung. – Und dass das Buch 176 Seiten hat, liegt daran, dass die Erzählung mitsamt den Erläuterungen auch auf Französisch abgedruckt sind.*

Und selbst, wer das nicht braucht, braucht dieses Buch, wenn er oder sie sich gerne lustvoll fürchtet.

Von Werner Schuster

* Die französische Originalfassung ist übrigens erst 1950 erschienen – zuvor hatte man es mit Übersetzungen einer russischen Übersetzung (!) zu tun.

Infos:

Alexei Konstantinowitsch Tolstoi war ein russischer Schriftsteller, Dramatiker und Dichter, aber auch Diplomat und höherer Beamter der Armee. Er lebte von 1817 bis 1875. Tolstoi stammte aus der bekannten Adelsfamilie der Tolstois und war ein Cousin von Leo Tolstoi. Kurz nach seiner Geburt trennten sich seine Eltern und er wurde von seiner Mutter und seinem Paten, dem Schriftsteller Perowski (Pseudonym: Antoni Pogorelski) erzogen. Seine frühe Kindheit verbrachte er auf den Landgütern seiner Mutter. 1826 wurde er in Sankt Petersburg in den Kreis um den jungen Thronfolger und späteren Zaren II. als Spielgefährte aufgenommen. Später lebte er bei Perowski, wurde von Hauslehrern ausgebildet und begleitete seinen Patenonkel auf seinen Reisen ins Ausland; dabei lernte er unter anderem Goethe kennen. Angeregt und gefördert von dieser künstlerischen Umgebung, begann Tolstoi früh mit dem Schreiben.

Mehr über Alexei Konstantinowitsch Tolstoi [5] bei Wikipedia.