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Knauss, Sibylle: Fremdling

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Buchcover
  • Roman
  • Hardcover
  • 384 Seiten
  • Erschienen 2012 bei Hoffmann & Campe

Inhalt:

Vor dreißigtausend Jahren hat er schon einmal ein Leben gehabt, der Mann, mit dem Jo genetisch identisch ist. Ausgesetzt in die Gegenwart, findet er sich nur in Marias Obhut zurecht. Als die nicht mehr in der Lage ist, ihre schützende Hand über ihn zu halten, macht er sich in den unberührten Natur reser vaten Europas auf die Suche nach seiner ursprünglichen Welt. Doch bald wird der geborene Jäger zum Gejagten. Nicht nur die Polizei sucht ihn, auch Forscher, die eine wissenschaftliche Sensation wittern, sind ihm auf der Spur. Da beschließt Maria, ihn ein letztes Mal zu treffen, um ihm zu sagen, wer er wirklich ist .

Kurzkritik:

Was wäre, wenn man einen Neandertaler in die Gegenwart verfrachten könnte? Wie würde dieser zurechtkommen? Wie würden die Menschen reagieren? Diesen Fragen geht Sibylle Knauss in ihrem Roman nach.

Sie hat keinen Fantasy-Roman geschrieben, sondern ein Gedankenexperiment unternommen, ohne alle Fragen, die dabei auftauchen, beantworten zu können und zu wollen. „Fremdling“ ist ein aufwühlendes Buch, das zum Weiterdenken anregt.

Besprechung:

Das einsamste menschliche Wesen auf diesem Planeten

Was wäre, wenn man einen Neandertaler in die Gegenwart verfrachten könnte? Wie würde dieser zurechtkommen? Wie würden die Menschen reagieren? Diesen Fragen geht Sibylle Knauss in ihrem Roman „Fremdling“ nach.

Sie hat keinen Fantasy-Roman geschrieben, in gewissem Sinn auch kein fantasiereiches Buch, sondern ein Gedankenexperiment unternommen, ohne alle Fragen, die dabei auftauchen, beantworten zu können und zu wollen.

Genetisches Experiment

Es beginnt mit einem geheimen genetischen Experiment: die junge Wissenschaftlerin Maria erklärt sich bereit, sich mit dem Erbgut eben eines Menschen befruchten zu lassen, der vor 30.000 Jahren gelebt hat. Der Plan war, den Neandertaler im Mutterleib und nach einer Abtreibung zu erforschen.

Doch dann flüchtet sie, bricht alles ab, was sie mit ihrem bisherigen Leben verbunden hat, kauft sich ein Wohnmobil, mit dem sie im ehemaligen Ostblock herumtingelt, und bringt ihr Kind in Rumänien zur Welt.

Jetzt muss sie nicht nur sich, sondern auch ihr Baby verstecken. Vor aller Welt.

Auf der Flucht

Schließlich lässt sie sich mit ihm in Kroatien nieder – in einer Hütte hoch oben in den Bergen. Doch Maria hat weder bedacht, dass die Andersartigkeit von Jo nicht unentdeckt bleiben kann, noch, was es für ihn bedeuten würde, im 21. Jahrhundert zu leben.

Knauss hat das schon bedacht. Jo wird – in Heime und Gefängnisse – eingesperrt, kann immer wieder flüchten – vor den ihn als Bedrohung erlebenden Menschen, vor den ihn erforschen wollenden Wissenschaftlern.

Sprechender Neandertaler

Doch Knauss vermeidet es in ihrem Roman, ihn wissenschaftlich untersuchen zu lassen (sonst wäre eben Fantasy daraus geworden), sondern bringt die LeserInnen auf den neuesten Stand, was Neandertaler betrifft. Das immer noch verbreitete Bild von schwerfälligen Primitiven, der kaum aufrecht gehen konnten, ist längst überholt: sie waren soziale, kulturelle und religiöse Wesen. Und da man mittlerweile überzeugt davon ist, dass Neandertaler sprechen konnten, kann Jo dies – in Maßen – auch.

Dennoch ist und bleibt er das einsamste menschliche Wesen auf diesem Planeten. Auch von seiner Mutter muss er sich schließlich trennen. Sie ist zwar (bis auf einen Arzt und ein kroatisches Mädchen) der einzige Mensch, der ihm Empathie entgegenbringt, doch – mit den Menschen, die ihr stets folgen – schadet sie ihm nur. Und es stellt sich (für mich) die Frage, ob sie das nicht schon mit ihrer Entscheidung getan hat, den Neandertaler auf diese Welt zu bringen.

Knauss erzählt von diesem Fremdling in einer klaren, aufs Wesentliche konzentrierten Sprache. Sie hat ein aufwühlendes Buch geschrieben, das zum Weiterdenken anregt.

Von Werner Schuster
Infos:

Sibylle Knauss wuchs im Ruhrgebiet auf und studierte Germanistik und Theologie. Sie ist Autorin zahlreicher Romane, darunter der Bestseller „Evas Cousine“, den die New York Times im Jahr 2002 unter die Books of the Year wählte. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete sie als Professorin an der Filmakademie Baden-Württemberg im Bereich Drehbuch. Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt ihre Romane „Die Marquise de Sade“ (2006) und „Eden“ (2009).

Mehr über Sibylle Knauss [5] und über Neandertaler [6] bei Wikipedia.