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Onfray, Michel: Anti-Freud

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Buchcover Anti-Freud [5]
  • Die Psychoanalyse wird entzaubert
  • Gebunden
  • 544 Seiten
  • Erschienen 2011 bei Knaus
  • Aus dem Französischen von Stephanie Singh
  • Originalausgabe: „Le crépuscule d’une idole”, 2010

Inhalt:

Verdrängung, Sublimierung der Triebe, Ödipuskomplex, der ganze Freud: von Wissenschaft keine Rede. Die Psychoanalyse: wahr und gültig nur für eine einzige Person – Sigmund Freud selbst. Michel Onfray, der große Radikale unter den Denkern der Gegenwart, sieht Freud als Schamanen und Stifter einer mächtigen Religion und entlarvt dessen Vermächtnis als „großartiges Märchen“ und kollektive Wahnvorstellung, der alle erliegen.

Kurzkritik:

Freud, schreibt Onfray, hatte einen Ödipus-Komplex und ein inzestuöses Verhältnis zumindest zu seiner Tochter Anna. Die Psychotherapie sei keine Wissenschaft, Freud habe sie nicht ganz alleine „erfunden“ (sondern viel von seinen Vorbildern übernommen, ohne dies zuzugeben), er habe seine PatientInnen nicht geheilt und auch sonst alles beschönigt und geleugnet, was seinem Image hätte schaden können.

Sollte es Freud und seinen NachfolgerInnen tatsächlich gelungen sein, einen unfähigen Pfuscher zu einem bedeutenden Wissenschaftler hochzustilisieren? Und beinahe 100 Jahre lang ist das niemandem aufgefallen?

Besprechung:

In der Schule hatte ich einen Psychologie-Professor, über den sein Nachfolger meinte, „aber der hat euch ja nur Freud unterrichtet!“ In der Tat war ich seltsam berührt gewesen davon, dass ich eigentlich mit meiner Mutter schlafen und meinen Vater töten hätte wollen und dass die Krawatte des Lehrers ein Penis sein sollte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich es gut oder schlecht gefunden habe, dass Mädchen angeblich einen Penisneid haben.

Später sagte mir jedenfalls – wie Michel Onfray – Wilhelm Reich mehr zu als Freud, auch wenn ich bei der Vegotherapie „ausgestiegen“ bin.

Freud hatte einen Ödipus-Komplex

Der französische Philosoph Onfray, der eine Volksuniversität betreibt, hat nun den ganzen Freud gelesen – bis auf jene Dokumente, die noch immer unter Verschluss gehalten werden – und kommt, grob gesagt, zu dem Schluss, dass Freuds Lehre viel über Freud selbst und wenig über die anderen aussagt.

Freud, schreibt Onfray, hatte einen Ödipus-Komplex und ein inzestuöses Verhältnis zumindest zu seiner Tochter Anna. Die Psychotherapie sei keine Wissenschaft, Freud habe sie nicht ganz alleine „erfunden“ (sondern viel von seinen Vorbildern übernommen, ohne dies zuzugeben), er habe seine PatientInnen nicht geheilt und auch sonst alles beschönigt und geleugnet, was seinem Image hätte schaden können.

Freudomarxismus

Onfray erklärt den ein Jahrhundert andauernden Erfolg Freuds damit, dass Freud der Erste war, „der den Sex in das abendländischen Denken integriert“ habe. Dass er die Psychoanalyse „generalstabsmäßig organisiert“ und eine „hierarchische und pyramidale Organisationsstruktur seiner Schüler“ gefördert habe. Dass die Psychotherapie eigentlich eine Religion sei und „wie eine Ersatzmetaphysik in einer Welt ohne Metaphysik“ funktioniere. Und dass der verstoßene Schüler Reich die Psychotherapie mit Marxismus verbunden und sie so für die revolutionär gesinnte Jugend der 1970er-Jahre interessant gemacht habe.

Im Gegensatz zu Freud behauptet Onfray allerdings nicht, er sei der alleinige Urheber seiner Ideen. Er verweist zum Beispiel auf das 2005 erschienene Buch „Livre noir de la psychanalyse“, in dem Freud ebenfalls als Lügner, Fälscher, Plagiator, Vertuscher und Propagandist beschrieben wird.

In den Archiven verborgen

Onfray schließt sich dem an und versucht seine Demontage vor allem mit Freuds Briefwechseln zu beweisen, von denen einige den Erfinder der Psychoanalyse denn doch in keinem günstigen Licht erscheinen lassen. Und man fragt sich schon, was da verborgen wird, wenn manches aus den Freud-Archiven immer noch nicht öffentlich zugänglich ist.

Mir hätte es als Schüler jedenfalls genügt, wenn der Professor auf längst bestätigte Zweifel an Freuds Theorien hingewiesen hätte. Dass etwa der Ödipuskomplex als universelle Entwicklungsphase empirisch nicht bestätigt werden konnte. Dass die Aussagen Freuds zu wenig wissenschaftlich fundiert sind. Dass Träume nicht generell auf infantilen Wünschen beruhen und meistens sexuell motiviert sind. Und dass der „Penisneid“ Unfug ist.

Alles falsch und schlecht?

Um das zu erfahren, braucht man allerdings bloß bei Wikipedia nachzuschauen. Onfray Buch wird man, wenn man wie ich Freuds Lehre kritisch oder ungläubig gegenübersteht, anfänglich mit Vergnügen lesen. Bald jedoch wird sich eine immer größer werdende Skepsis einschleichen. – Soll denn wirklich alles an der Psychotherapie falsch und schlecht sein? Sollte es Freud und seinen NachfolgerInnen tatsächlich gelungen sein, einen unfähigen Pfuscher zu einem bedeutenden Wissenschaftler hochzustilisieren? Und beinahe 100 Jahre lang ist das bisher niemandem aufgefallen?

Von Werner Schuster
Infos:

Leseprobe [6]

Das meinen andere [7] (Perlentaucher-Rezensionsnotizen).

Autor:
Der Philosoph Michel Onfray, geboren 1959 in Argentan/Frankreich, gründete 2002 in Caen die »Université Populaire«, eine Art Volksuniversität, zu der jedermann Zutritt hat. Jährlich besuchen Tausende Zuhörer seine Vorlesungen. Mit seiner Absage an alle Religionen und dem Plädoyer für ein freies, vernunftbestimmtes Leben entfachte er eine leidenschaftlich und kontrovers geführte Debatte. Er verfasste mehr als 50 Bücher, die in über 25 Ländern übersetzt wurden, unter anderem »Traité d’athéologie« (Dt: »Wir brauchen keinen Gott«) und eine mehrbändige Gegen-Geschichte der Philosophie.

Mehr über Michel Onfray [8] bei Wikipedia.