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Bruzzone, Félix: 76

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Buchcover Bruzzone 76


Inhalt:

Die Protagonisten dieser Erzählungen haben ein gemeinsames biographisches Merkmal: Alle sind ohne ihre Eltern aufgewachsen, die zwischen 1976 und 1983, also in den Jahren der Militärdiktatur, verhaftet, verschwunden, gefoltert und ermordet wurden. Die Geschichten spielen in der Gegenwart, aber die Vergangenheit, eine für das heutige Argentinien nach wie vor traumatische und unvergessene Periode, bildet ungenannt den unübersehbaren Hintergrund. (Pressetext)

Kurzkritik:

Es ist schrecklich, was den ProtagonistInnen der in „76“ versammelten Erzählungen von Félix Bruzzone widerfahren ist. Ihre Eltern sind „verschwunden“, genauer gesagt: sie wurden verhaftet, gefoltert und grausam getötet. Die Erzählungen werden als „kunstvoll unprätentiös“ angekündigt. Nun, unprätentiös sind sie wohl, doch ich halte sie für nicht besonders kunstvoll.

Insgesamt denke ich, es hätte der Sache gut getan, wenn Bruzzone entweder eine Reportage verfasst oder sich sein Leid schonungslos von der Seele geschrieben hätte. Doch mit „76“ hat er versucht, ein Thema distanziert zu beschreiben, zu dem er keine Distanz hat. Das Ergebnis ist weder inhaltlich noch formal überzeugend.

Besprechung:

Fotos von Mama

Es ist schrecklich, was den ProtagonistInnen der in „76“ versammelten Erzählungen von Félix Bruzzone widerfahren ist. Ihre Eltern sind „verschwunden“, genauer gesagt: sie wurden verhaftet, gefoltert und grausam getötet. Die Erzählungen werden als „kunstvoll unprätentiös“ angekündigt. Nun, unprätentiös sind sie wohl, doch ich halte sie für nicht besonders kunstvoll.

In „Haus am Strand“ kaufen ein paar Jugendliche in den Ferien ein Sexmagazin – die Verschwundenen werden nur am Rande erwähnt. In „Unimog“ kauft ein Lieferservice-Unternehmer einen teuren Laster – mit dem Geld, das er als Abfindung für das Verschwinden seines Vaters erhalten hatte – und hat kein Glück damit. In „Fotos von Mama“ kauft ein Mann „jedes Mal, wenn ich etwas über Mama herausfinde, zwei, drei Flaschen Wein“. Dann setz er sich allein in den Innenhof und trinkt sie aus.

Sie erzählte nichts dergleichen

Die ihn eines Tages besuchende Cecilia „erzählte nichts dergleichen (von brutalen Polizei-Aktionen während der Militärdiktatur; Anm.), sondern meinte nur, der Kaffee sei köstlich und wie ich ihn zubereitet hätte. Ich sagte, nichts Besonderes, vielleicht die Sorte; und wer vom Regen durchnässt hereinkomme, für den sei wahrscheinlich jede Tasse Kaffee ein Gedicht“.

Ich-Erzähler ohne Eltern

In diesem Stil sind alle Geschichten erzählt, meist in der ersten Person und in der Regel versuchen Kinder etwas über ihre verschwundenen Eltern herauszufinden. Es ist schon interessant, in welch unterschiedlichen Facetten sich die gleichen Schicksale manifestieren, doch scheint es Bruzzone stets um die eine Sache und weniger um die Personen zu gehen, die er nicht wirklich plastisch beschreibt. Auf mich hat das ermüdend gewirkt.

Am kunstfertigsten erscheint mir noch „Susana ist in Uruguay“, worin die Geschichte einer Frau, die bei einem Massaker in die Luft gesprengt worden ist, ausschließlich mittels Dialogen ihrer Verwandten erzählt wird.

Plumpe Utopie

Und als misslungen betrachte ich jene plumpe Utopie, mit der uns Bruzzone wohl davon künden wollte, dass die Militärdiktatur die Überlebenden auch hundert Jahre später noch beschäftigt: In „2073“ wird mit Masken gehandelt, die nicht identifizierte Leichen darstellen. Eine Gruppe will solche Masken teuer weiterverkaufen und erlebt seltsame, unerklärliche und unerklärte Abenteuer in einer vage beschriebenen Zukunft.

Keine Distanz

Insgesamt denke ich, es hätte der Sache gut getan, wenn Bruzzone entweder eine Reportage verfasst oder sich sein Leid schonungslos von der Seele geschrieben hätte. Doch mit „76“ hat er versucht, ein Thema distanziert zu beschreiben, zu dem er keine Distanz hat. Das Ergebnis ist weder inhaltlich noch formal überzeugend.

Von Werner Schuster
Infos:

Félix Bruzzone wurde 1976 in Buenos Aires geboren. Er wurde von der Tageszeitung „Clarin“ zu einem der zehn wichtigsten Autoren des vergangenen Jahrzehnts ernannt. Zusammen mit Hernán Vanoli leitet er den Verlag Tamarisco in Buenos Aires. Für seinen Erzählband „76“ erhielt er 2010 den Anna-Seghers-Preis.

Mehr über Félix Bruzzone [5] bei Wikipedia.