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Betancourt, Ingrid: Kein Schweigen, das nicht endet

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

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Inhalt:

Präsidentin von Kolumbien wollte sie werden, ihr zerrissenes Land versöhnen, der Korruption hatte sie den Kampf angesagt: Ingrid Betancourt wurde zur Hoffnungsträgerin in ihrer Heimat und auch im Ausland, bis sie am 23. Februar 2002 von der linksgerichteten Rebellen-Armee FARC entführt und in den Dschungel verschleppt wurde. (Pressetext)

Kurzkritik:

Wenn dieses Buch von einer Privatperson verfasst worden wäre, hätte ich noch gesagt, hier schreibt jemand mit zu wenig Abstand, aber von einer Politikerin hätte ich mir eindeutig mehr als – meiner Ansicht nach verschleiert und/oder verzerrt dargestellte – private Erinnerungen erwartet.

Besprechung:

Ganz privat gefangen

Es ist natürlich erschütternd, dass jemand unschuldig sechs Jahre gefangen gehalten wird, aber muss uns Ingrid Betancourt das auf über 700 Seiten schildern? Noch dazu, wo dieses Buch wenig Struktur aufweist. Betancourt schildert uns ihr Martyrium zwar chronologisch, aber es geschieht einfach „nicht genug“, als dass mich das über weite Strecken wirklich interessiert hätte.

Man erfährt (zu) wenig über die Zustände in Kolumbien, wo Betancourt Präsidentin werden wollte (– absurder Weise ähnlich gegen das politische System eingestellt wie die FARC, deren Bosse sie durch den Dschungel schleppten). Statt dessen bekommt man (zu) viele Einzelheiten über die Gefangenschaft geschildert. Wobei sich wenig ändert: Betancourt wird mal mehr, mal weniger schlecht behandelt.

Korrupt, das sind die anderen

Selbstverständlich ist das schlimm genug. Aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Betancourt – vor allem was ihre Mitgefangenen betrifft – nicht ganz ehrlich ist. Fast immer ist sie die Gute, Beherrschte, und ihre LeidensgenossInnen sind korrupt und gemein. (Wiewohl ich es ihr schon glaube, dass sich Menschen in Extremsituationen nicht – wie man erwartet oder hofft – solidarisch verhalten. Man braucht ja nur ein paar BergsteigerInnen-Bücher zu lesen, um das staunend zur Kenntnis zu nehmen.)

Jedenfalls lesen sich die 734 Seiten wie eine Materialsammlung zu einem Tatsachenbericht, der – entsprechend systematisch aufbereitet – interessant und spannend sein könnte.

Ein Thriller ist authentischer

Denn auf all diesen Seiten erfährt man nicht (oder nur andeutungsweise), wer und wie Betancourt war, bevor sie gefangen genommen wurde (wahrscheinlich sollte man zu diesem Zweck ihr Buch „Die Wut in meinem Herzen“ lesen), man erfährt ein wenig, was die Gefangenschaft nach und nach aus ihr gemacht hat, und überhaupt nicht, wie sie danach mit ihrem Trauma umgegangen ist. (Wer davon eine Vorstellung bekommen möchte, müsste parallel zu „Kein Schweigen, das nicht endet“ etwa John Katzenbachs Psychothriller „Der Professor“ lesen. – Siehe hier. [6])

Die unpolitische Politikerin

Und abgesehen von der persönlichen Ebene: mich hätte auch interessiert zu erfahren, wie Betancourt ihr Schicksal von einer politischen Warte her sieht. Dass ich dafür zusätzlich zu diesem dicken Buch Zeitungsartikel lesen musste, finde ich sonderbar (– siehe „Dann werde ich panisch, dann werde ich krank“ [7] im „Spiegel“ und „Die Überlebende“ [8] in der „Zeit“).

Wenn dieses Buch von einer Privatperson verfasst worden wäre, hätte ich noch gesagt, hier schreibt jemand mit zu wenig Abstand, aber von einer Politikerin hätte ich mir eindeutig mehr als – meiner Ansicht nach verschleiert und/oder verzerrt dargestellte – private Erinnerungen erwartet.

Von Werner Schuster
Infos:

Ingrid Betancourt, geb. 1961 in Bogotá, studierte Politik in Paris. 1989 kehrte sie mit ihren Kindern nach Kolumbien zurück, wo sie von 1994 bis 1998 Abgeordnete im Repräsentantenhaus war. Sie erhielt Morddrohungen und brachte 1996 ihre Kinder ins Ausland, eine Erfahrung, die sie in ihrem ersten Buch “Die Wut in meinem Herzen” beschrieb. Als Präsidentschaftskandidatin auf Wahlkampftour, wurde sie am 23. Februar 2002 entführt und erst am 2. Juli 2008 aus der Hand der FARC-Guerilla befreit. Heute lebt sie in den USA und Frankreich.Maja Ueberle-Pfaff, geboren 1954 in Karlsruhe, Studium der Anglistik und Geschichte, Übersetzerin und Autorin, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in der Nähe von Freiburg/Br.Claudia Feldmann, geboren 1966, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und übersetzt seit mehr als zehn Jahren aus dem Englischen und Französischen. Unter anderem hat sie Eoin Colfer und Ewan Morrison ins Deutsche übertragen.

Mehr über Ingrid Betancourt [9] bei Wikipedia.