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Leidenfrost, Martin: Brüssel zartherb

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Buchcover
Erschienen 2010 bei Picus
Inhalt:

Mehr als fünfzigtausend Menschen feilen in Brüssel an Regeln für fünfhundert Millionen. Beamte, Lobbyisten, Repräsentanten, Assistenten, Politiker, Praktikanten. Sie handeln siebzig Prozent unserer Gesetze aus, aber wir kennen ihre Gesichter nicht. Wenn sich nun einer diese Leute ansähe? Wenn einer durch Brüssel flanierte, durch Hintertüren spazierte, die Feen und Heinzelmännchen der Europablase studierte? Wenn einer ihre Stile, Affären und Ausdrucksformen beobachtete, neue europäische Einheitszüge ausmachte und verbliebene nationale Intimpartien beschriebe? Martin Leidenfrost hat das getan. (Pressetext)

Kurzkritik:

Leidenfrost ist am Ende seines Jahres in Brüssel gewiss schlauer geworden, aber ohne jenen Durch- und Überblick, den uns so viele Sachbuch-AutorInnen suggerieren wollen. Und so ist „Brüssel zartherb“ gewissermaßen die Ergänzung zur offiziellen und zur medialen Berichterstattung.

Besprechung:

Die EU von innen

Nachdem Martin Leidenfrost in „Die Welt hinter Wien“ das, was Wirtschaftstreibende CEE nennen, von unten, besser gesagt: auf Augenhöhe mit den dort lebenden Menschen beschrieben hat, hat er sich im Auftrag der „Presse“ und diverser anderer europäischer Zeitungen auf nach Brüssel gemacht. Ein Jahr lang hat er über die Menschen von den Institutionen der Europäschen Union berichtet, und nun sind diese 50 Porträts im Picus-Verlag herausgekommen.

Von diesem Buch soll man sich nun nichts Allgemeingültiges erwarten. Das war auch gar nicht beabsichtigt: „Ich weiß nicht, was mich erwartet. Wenn ich einen Sündenpfuhl finde, erzähle ich davon. Wenn ich Stammesfehden finde oder keimfreie Europäer, dann erzähle ich davon. Und wenn ich Langeweile finde, erzähle ich von Langeweile.“

Im Tal der Eurokraten

Gefunden hat Leidenfrost einerseits genau das, wie man sich Brüssel immer schon vorgestellt hat (Stichwort „Tal der Eurokraten“), andererseits hat er die Menschen, die (mit) diese(n) Klischees leben, genau und bis zu einem gewissen Grad erbarmungslos beobachtet.

Die Prostituierten aus Sliven

Er hat das Parlament besucht (das zweitgrößte der Welt) und den Rat und wollte Europas Völker „durch das Prisma der Brüsseler Europablase“ vorstellen (ein „auffällig blutleerer Stoff“), er ist – auch vor Ort – der Frage nachgegangen, warum gerade aus dem bulgarischen Sliven so viele Prostituierte kommen, er hat sich unter diverse Lobbyisten gemischt und unter die Beamten.

Wohltemperiert

Sie „waren korrekt, teamfähig, transparent, kommunikativ. sie duschten lange, kleideten sich dezent, beantworteten Mails. Sie trugen keine ausgeprägte Männlichkeit und keine ausgestellte Weiblichkeit zu Schau. Sie waren in jeder Hinsicht wohltemperiert.“ Und Leidenfrost fragt sich: „Wer hat ein Europa gewollt, in dem das Initiativrecht und die Kreativmacht Beamten gehört? (–) Und wo führt das alles hin?“

Die schlaue Ergänzung

Er gibt keine Antwort auf diese Frage. Leidenfrost ist am Ende seines Jahres in Brüssel gewiss schlauer geworden, aber ohne jenen Durch- und Überblick, den uns so viele Sachbuch-AutorInnen suggerieren wollen. Und so ist „Brüssel zartherb“ gewissermaßen die Ergänzung zur offiziellen und zur medialen Berichterstattung.

Anhand dieses Buches kann man sich besser vorstellen, wer dort wie für die EU arbeitet.

Von Werner Schuster
Infos:

Über Martin Leidenfrost [5] bei Wikipedia.