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Lilin, Nicolai: Sibirische Erziehung

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Buchcover
Erinnerungen
Erschienen 2010 bei Suhrkamp
Aus dem Italienischen von Peter Klöss
Originalausgabe: „Educazione sibiriana“, 2009
Inhalt:

Anschaulich und direkt, stolz und nicht ohne Selbstironie erzählt Nicolai Lilin, Abkömmling der sibirischen Urki, eines Kriminellenclans, in einer Abfolge verblüffender, teils atemberaubender Geschichten, vom Aufwachsen in Transnistrien, wohin die Urki 1938 auf Stalins Befehl umgesiedelt wurden, und von der Urki-Erziehung, die aus ihm den lebenden Widerspruch eines »ehrbaren Kriminellen« machen sollte (Pressetext)

Kurzkritik:

Früher hat man sich die Mafia so vorgestellt, wie sie Francis Ford Coppola in seinen „Pate“-Filmen darstellte, das wurde ein wenig revidiert durch Martin Scorseses „Good Fellas“. Daran wird Nicolai Lilins Buch wahrscheinlich nichts ändern, auch wenn seine Erinnerungen an die sibirische Mafia authentisch sind.

Noch dazu, wo man nahezu alles, was Lilin an seinem 13. Geburtstag erlebt hat, in einem Film für unwahrscheinlich halten würde.

Besprechung:

Die anderen „Good Fellas“

Früher hat man sich die Mafia so vorgestellt, wie sie Francis Ford Coppola in seinen „Pate“-Filmen darstellte, das wurde ein wenig revidiert durch Martin Scorseses „Good Fellas“. Daran wird Nicolai Lilins Buch wahrscheinlich nichts ändern, auch wenn seine Erinnerungen an die sibirische Mafia authentisch sind.

Und auch wenn es glaubwürdig ist, dass es viele Arten des organisierten Verbrechens gibt. Die Urki wurden 1938 nach Transnistrien zwangsumgesiedelt und schafften es lange, ihre Lebensweise zu bewahren, eine Mischung aus Altenverehrung, mystischer Religiosität und eben Kriminalität.

Gegen jegliche staatliche Autorität

Die Urki waren gegen jegliche staatliche Autorität und sahen sich im Recht, sich von denen, die über sie bestimmen wollten, Geld zu nehmen. Es ging ihnen aber nicht um materiellen Reichtum, sondern ums (Über-)Leben.

Das klingt jetzt fälschlicherweise nach Robin Hood. Doch es ging sehr brutal zu. Kinder sammelten ihre Erfahrungen in bewaffneten Kämpfen mit Jugendbanden anderer krimineller Vereinigungen und mit der Polizei.

Straßenkämpfe

Nahezu alles, was Lilin an seinem 13. Geburtstag erlebt hat, würde man in einem Film für unwahrscheinlich halten. Er brachte einen Brief in feindliches Territorium und kam aus mehreren Straßenkämpfen nur knapp mit dem Leben davon.

Doch es sind eben nicht die Kämpfe, mit denen dieses Buch unsere Vorstellungen von „Mafia“ untergräbt, sondern es ist die Lebensart. Den Jungen wurde von den Alten Freundschaft, Loyalität, Freigebigkeit beigebracht – und die Pflicht, Kinder, Alte und Behinderte zu schützen.

Untergegangen

Die Urki, wie Lilin sie beschreibt, gibt es nicht mehr. Ihre zweite Heimat wurde im Transnistrien-Konflikt zwischen Russland und Moldawien zerstört. Lilin wurde eingezogen und nahm mit einer Sondereinheit an den Kämpfen in Tschetschenien teil, bis ihm die Flucht nach Italien gelang.

Dort lebt er als Tattoo-Künstler (was er bei den Urki gelernt hat) und hat jetzt eine untergegangene (kriminelle) Lebensweise für die Nachwelt bewahrt.

Von Werner Schuster
Infos: