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Jordan, Toni: Tausend kleine Schritte

Buchcover Tausend kleine Schritte
  • Roman
  • Hardcover & Taschenbuch
  • Erschienen 2009/2010 bei Piper
  • Aus dem australischen Englisch von Brigitte Jakobeit
  • Originalausgabe: „Addition“, 2008

Inhalt:

Grace Lisa Vandenburg zählt alles, was sie umgibt, jede Kleinigkeit: die Schritte bis zu ihrem Lieblingscafé (920), die Streusel auf ihrem Orangenkuchen (12 – 92) und die Buchstaben ihres Namens (19). Erst Seamus O’Reilly und sein unwiderstehlicher Wunsch, hinter das Geheimnis ihres Lebens zu kommen, lässt sie die Kontrolle verlieren.

Kurzkritik:

Ich habe schon lange kein so berührendes, lustiges, Klischees unterwanderndes, indirekt Individualismus „predigendes“ und Hoffnung gebendes Buch gelesen. „Tausend kleine Schritte“ handelt von einer Frau, die seit einem einschneidenden Erlebnis alles zählen muss, um sich sicher zu fühlen. Sie ist ein 10er-Typ und sieht sich auch gezwungen, zehn Bananen oder Zahnbürsten und dergleichen einzukaufen. Aufgrund solcher Verhaltensauffälligkeiten hat sie auch ihren Job (als Lehrerin) verloren und zählt sich jetzt so durch ihr einsames Leben.

Das ist die eine Seite von Grace Lisa Vandenburg. Die andere: Sie ist intelligent und witzig. Nur gibt sie niemandem die Chance, „beide“ Graces kennenzulernen. Jetzt kommt natürlich ein Mann ins Spiel. Der heißt Seamus Joseph O‘Reilly und ist ausnahmsweise einmal kein Böser, der nur auf lieb macht. Seamus will Grace wirklich helfen und begreift sogar, dass so etwas nur funktionieren könnte, wenn der/die andere sich auch helfen lassen will.

Wird das gut gehen? Unbedingt selbst lesen!

Besprechung:

Lieber gestört als wie alle sein

Ich bin ja jetzt nicht jemand, dem schnell mal die Träne quillt, und bei Büchern kommt das eigentlich überhaupt nicht vor, aber dieser Roman hat mich tief gerührt. Das hat – hochgestochen gesprochen – damit zu tun, dass ich mich in Musils Möglichkeitsmensch wieder finde. Anders gesagt: Ich war vom Film „Zeit des Erwachens“ [1] erschüttert, weil die aus dem Koma geholten PatientInnen wieder ins Koma zurückfallen.

Es wär‘ so viel möglich und dann geht‘s nicht. Heul.

Sie ist ein 10er-Typ

In „Tausend kleine Schritte“ geht‘s um eine Frau, die seit einem einschneidenden Erlebnis alles zählen muss, um sich sicher zu fühlen. Sie ist ein 10er-Typ und sieht sich auch gezwungen, zehn Bananen oder Zahnbürsten und dergleichen einzukaufen.

Aufgrund solcher Verhaltensauffälligkeiten hat sie auch ihren Job (als Lehrerin) verloren und zählt sich jetzt so durch ihr einsames Leben.

Der gute Mann von Melbourne

Das ist die eine Seite von Grace Lisa Vandenburg. Die andere: Sie ist intelligent und witzig. Nur gibt sie niemandem die Chance, „beide“ Graces kennenzulernen.

Jetzt kommt natürlich ein Mann ins Spiel. Der heißt Seamus Joseph O‘Reilly und ist ausnahmsweise einmal kein Böser, der nur auf lieb macht. Seamus will Grace wirklich helfen und begreift sogar, dass so etwas nur funktionieren könnte, wenn der/die andere sich auch helfen lassen will.

Medikamente gegen das Zählen

Grace will schließlich, geht in eine Gruppentherapie (mit PhobikerInnen) und schluckt brav ihre Antidepressiva. Von denen wird sie nicht nur dick, die beeinträchtigen auch ihre Persönlichkeit. Grace fühlt sich, als hätte sie zwei Gehirne, die miteinander sprechen:

Gehirn Eins: Am nächsten Morgen wurde alles schlimmer. Der Wecker war wie immer auf 5.55 Uhr gestellt, womit mir 5 Minuten blieben, um richtig wach zu werden. Um Punkt 6.00 Uhr musste ich aufstehen. Das war immer sher wichtig.
Gehirn Zwei: Kriegen wir ein Stück Kuchen?
Gehirn Eins: Später.
Therapeutin: Fahren Sie bitte fort, Grace. Was ist später passiert?
Gehirn Eins: Später – das heißt, vorher – in der Nacht hatte es einen Stromausfall gegeben.
Phobiker: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass so was passiert?
Gehirn Zwei: Früher wusste ich das.
Gehirn Eins: – Mein Wecker ging also nicht. Nichts. Nur blinkende Nullen.
Therapeutin: Und was haben Sie gemacht?
Gehirn Eins: Nichts. Woher soll man wissen, wann man aufstehen muss, wenn es nichts und niemanden gibt, der es einem sagt? Ich blieb einfach liegen.
Gehirn Zwei: Ist jetzt schon später? In der Cafeteria gibt es Muffins.
Gehirn Eins: Ich bin auch hungrig. Als meine Schwester schließlich vorbeikam, um nach mir zu sehen, hatte ich vierundzwanzig Stunden lang nichts gegessen. Es hatte so lange gedauert, weil in der Schule erst in den Unterlagen nachgesehen werden musste, wer im Falle meines Nichterscheinens angerufen werden sollte. – Ich hatte schon mehrmals ins Bett gepinkelt.
Phobikerin 1: Ins Bett gepinkelt?
Phobikerin 2: Und Sie haben drin gelegen?

So etwas ist natürlich lustig, aber nur gerade noch. So wie der ganze Roman. Durch Schmunzeln und Lachen wird man „aufgeweicht“ und die kleinen und großen Verstörungen und Verletzungen, die man sich Zeit seines Lebens zuzieht, sind zugänglicher. Bei mir war das zumindest so.

Die Individualismus-Predigt

Und ich habe es – angesichts der vielen Heil verkündenden Anpassungsmethoden (Ratgeber, Therapien, etc.) – wunderschön gefunden, dass Grace lieber gestört, aber sie selbst sein will. Sprich: Sie bricht die Behandlung ab. Und sie trennt sich auch von Seamus.

Damit ist der Roman natürlich noch nicht zu Ende, aber ich hab‘ eh schon zu viel verraten. Jedenfalls habe ich schon lange kein so berührendes, lustiges, Klischees unterwanderndes, indirekt Individualismus „predigendes“ und Hoffnung gebendes Buch gelesen.

Von Werner Schuster
Infos:

1966 in Brisbane geboren, studierte Toni Jordan Naturwissenschaften an der Universität von Queensland. Sie arbeitete als Mikrobiologin, Lebensmittelchemikerin und Marketingmanagerin, bevor sie mit dem Schreiben begann. »Tausend kleine Schritte« war in Australien nominiert für den Besten Roman des Jahres, wurde als Bestes Debüt ausgezeichnet und in 12 Sprachen übersetzt. Und es stand unter anderem auf der Shortlist des Barbara Jefferis Award sowie als Bester Roman auf der des Australian Book Industry Award. Toni Jordan lebt mit ihrem Mann in Melbourne.

Über Toni Jordan auf www.tonijordan.com [2].