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Winnington, Alan: Tibet

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Ausführliche Besprechung [3]Infos [4]

Buchcover
Die wahre Geschichte

Sachbuch (Geschichte & Politik)
Aus dem Englischen von Gisela Seidel
Taschenbuch: Das Neue Berlin, 2008
Inhalt:

„Mit diesem Buch möchte ich dazu beitragen, das Geheimnis Tibet zu enthüllen.“ Das ist dem Autor gelungen. Tausende Kilometer legte er zurück in Tibet, lernte Sitten und Gebräuche kennen, sprach mit Menschen aus allen Schichten, studierte die Veränderungen, die nach der Wiedervereinigung mit China vonstatten gingen. Er sah das Land nicht mit den Augen eines Touristen; er versuchte an Ort und Stelle den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen auf den Grund zu gehen. Die jüngsten Ereignisse auf dem »Dach der Welt« haben eine Vorgeschichte, die wohl kaum ein Europäer besser kennt als Alan Winnington. Sein fesselnder Erlebnisbericht lässt uns die Gegenwart dieses Landes besser begreifen. (Pressetext)

Kurzkritik:

Einerseits: Dieses Buch hat mir zu denken gegeben, ob nicht auch das tibetische Volk ein Recht auf Fortschritt, Gleichbehandlung und Wohlstand aller Menschen quer durch alle Gesellschaftsschichten hat, und wie es mir gefallen würde, wenn sich irgendwelche Regierungen auf einem fernen Kontinent dafür stark machen würden, dass bei uns wieder die katholische Kirche regiert und der Pabst das Sagen in politischen Belangen hat.

Andererseits: Winningtons Reportage wirkt aufrichtig und durchdrungen von dem Gefühl, dass mit Tibet etwas Wichtiges und Richtiges passiert. Er schwärmt geradezu für die chinesische Volksbefreiungsarmee – da werde ich skeptisch: Kann es sein, dass dieser enthusiastische Blick auf ein jahrhundertelang unterdrücktes Volk im Aufbruch ein wenig einseitig ist?

Besprechung:

Feudal gegen sozial

Mythos Tibet: verschneite Berge, betende Mönche, malerische Nomadenzelte, Bauern mit ihren Yaks unterwegs, barfuß laufende Kinder in bunter, zerlumpter Kleidung, Steinhaufen, Gebetsfahnen, Eis und Schnee, Tempel und Klöster, pittoreske Dörfer – und das alles gefährdet durch die blutige Unterdrückung der Volksrepublik China? Das darf nicht sein, denkt man mit gebührender moralischer Entrüstung.

Jetzt, wo Tibet im Brennpunkt des öffentlichen Interesses steht, ist die neu erschienene Reportage des britischen Journalisten Alan Winnington besonders interessant zu lesen. Winnington bereiste Tibet in den Jahren 1955 und 1959 und fasste seine Eindrücke in diesem Buch spannend, sehr informativ und mit viel Liebe zum Detail zusammen. Er fuhr auf den ersten Straßen, die in Tibet gebaut wurden, besuchte neue Schulen und Krankenhäuser, medizinische und landwirtschaftliche Forschungsprojekte und sprach mit vielen Menschen, unter anderem mit dem Dalai Lama, dem Panchen Lama, Adeligen, Beamten, Bauern, Frauen aus allen Gesellschaftsschichten, ehemaligen Leibeigenen und Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee.

Jahrhundertelang konservativ

Wir erfahren viel Geschichtliches über die jahrhundertelange Feudalherrschaft in Tibet, die Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen durch weltliche und geistliche Herrscher, über die komplizierten Gefüge der Gesellschaftsschichten und die konservative Grundhaltung, die jedem Fortschritt in wirtschaftlicher und weltanschaulicher Hinsicht im Weg stand. Welche Rolle spielte der Westen, spielte Indien in diesem politischen Ringen um das sagenumwobene „Schneeland“, das ja auch sagenumwobene Bodenschätze zu bieten hat? Wie war das damals, als die chinesische Volksbefreiungsarmee ins Land einmarschierte, hat sie gebrandschatzt und gemordet? Wie friedlich ging das alles vonstatten?

Neuerungen im buddhistischen Land

Wie stehen junge und alte Tibeter zu den Neuerungen in ihrem Land, wie fühlt es sich an, plötzlich unabhängig von Rang und gesellschaftlicher Stellung Zugang zu einem anständigen Verdienst und zu Bildung zu haben, ohne die existenzgefährdenden Abgaben und Zehenten an die Fürsten und Mönche leisten zu müssen? Wie ist es möglich, in einem buddhistischen Land Neuerungen einzuführen – z. B. in der Medizin – die gegen religiöse Gebote verstoßen? Und wie ist das jetzt wirklich mit der Religionsfreiheit?

Ich bin kein besonders politisch bewanderter Mensch, aber für den „Mythos Tibet“ hab ich mich immer schwärmerisch interessiert, jedoch so, wie man sich für Märchen oder Abenteuergeschichten begeistert. Dieses Buch hat mir zu denken gegeben, ob nicht auch das tibetische Volk ein Recht auf Fortschritt, Gleichbehandlung und Wohlstand aller Menschen quer durch alle Gesellschaftsschichten hat, und wie es mir gefallen würde, wenn sich irgendwelche Regierungen auf einem fernen Kontinent dafür stark machen würden, dass bei uns wieder die katholische Kirche regiert und der Pabst das Sagen in politischen Belangen hat.

Schwärmen für die Volksbefreiungsarmee

Winningtons Reportage wirkt aufrichtig und durchdrungen von dem Gefühl, dass mit Tibet etwas Wichtiges und Richtiges passiert. Er schwärmt geradezu für die chinesische Volksbefreiungsarmee – da werde ich skeptisch: Kann es sein, dass dieser enthusiastische Blick auf ein jahrhundertelang unterdrücktes Volk im Aufbruch ein wenig einseitig ist?

Von Eva Schuster
Infos:

Alan Winnington (1910-1983), englischer Journalist und Schriftsteller, war in den vierziger und fünfziger Jahren als Korrespondent in China, schrieb über die Revolution und den »Langen Marsch«, über die Kriege der USA in Korea und Vietnam. Ende der fünfziger Jahre nahm er seinen Wohnsitz in Berlin, Hauptstadt der DDR. Neben seiner journalistischen Arbeit schrieb er Reisebücher (besonders über Ostasien) Romane, Krimis und Kinderbücher.

Über Alan Winnington [5] bei Wikipedia.