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Walser, Martin: Halbzeit

Kurzkritik [1]Was meinen Sie? [2]Infos [3]

Cover Walser Halbzeit
Roman
Suhrkamp (1960)
Inhalt:

Bei seinem Erscheinen 1960 erregte der Roman ‘Halbzeit’ die Gemüter. Ungewohnt war die Vielfalt des dargestellten Geschehens: das Familienleben, der berufliche Aufstieg, die erotischen Abenteuer des alerten, ewig redenden und dabei ewig mißmutigen fünfunddreißigjährigen Vertreters Anselm Kristlein; ungewohnt war die Genauigkeit, mit der Martin Walser gesellschaftliche Haltungen und Praktiken entlarvte: den Zwang der Reklame und des Konsumstrebens, die politischen und sozialen Verfestigungen; und ungewohnt war die ganz aus dem leidenden Bewußtsein des Vertreters Kristlein entstandene erzählerische Form. (Pressetext)

Kurzkritik:

Bis zu einem gewissen Grad ist dieser frühe Roman von Martin Walser sehr aktuell: Der Titel-Antiheld und Ich-Erzähler Anselm Kristlein muss sich beruflich ständig neu orientieren und an geänderte Gegebenheiten anpassen. Und auch das Innen- und Liebesleben dieses erfolglosen Handelsvertreters, der in die Werbebranche wechselt, dürfte sich von dem heutiger 30-jähriger nicht besonders unterscheiden: Fremdbestimmtheit, kriselnde Ehe, Seitensprünge etc.

Der Rest ist angewandte Geschichtskunde: Wie war es, in den 50er-Jahren zu leben, als sich die Nationalsozialisten wieder in die Demokratie einlebten und der Wirtschaftsaufschwung unbremsbar erschien, dass man (und das ist der Unterschied zur Gegenwart) schon sehr unwillig sein musste, um keine Arbeit zu bekommen? Interessant ist jedenfalls, dass die Konsumgesellschaft – etwa von Walser – schon in ihren Anfängen kritisch beäugt wurde.

Wer ist der Nazi?

Und (eine meiner Lieblingsszenen): Als Anselm Kristlein in eine Gesellschaft kommt und weiß, dass sich darin ein “ehemaliger” Nazi befindet, wie er zuerst aufgrund des Äußeren den Falschen als Nazi betrachtet und verabscheut, wie er schließlich den echten Nazi herausfindet und völlig verwirrt vor der Realität kapituliert. Solche mit kaum revidierbaren Vorurteilen behaftete Begegnungen sind ebenfalls kein Phänomen der Nachkriegsjahre.

Erzählt wird dies auf rund 900 Seiten mit hoher Sprachvirtuosität und ohne “traditionelle” Handlungsfolge. “Halbzeit” ist der erste Teil der Anselm-Kristlein-Trilogie: 1966 folgte “Das Einhorn”, 1973 “Der Sturz”.

Infos:

Martin Walser, 1927 in Wasserburg (Bodensee) geboren, lebt heute in Nußdorf (Bodensee). 1957 erhielt er den Hermann-Hesse-Preis, 1962 den Gerhart-Hauptmann-Preis und 1965 den Schiller-Gedächtnis-Förderpreis. 1981 wurde Martin Walser mit dem Georg-Büchner-Preis, 1996 mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg und 1998, dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels und dem Corine – Internationaler Buchpreis; Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten 2008 ausgezeichnet.

Über Martin Walser [4] bei Wikipedia.