Kurzkritik [1] – Was meinen Sie? [2] – Ausführliche Besprechung [3] – Infos [4]
Roman
Aus dem Englischen von Martin Hielscher
btb 2000
Suhrkamp, 2010
Inhalt:
Kurzkritik:
„Bruder Zwilling“ könnte auch in der Gegenwart, in einer anderen Diktatur, auf einem anderen Kontinent spielen. Somit ist das Buch viel mehr als ein Zeitdokument und sollte Farah endlich auch im deutschsprachigen Raum die ihm zustehende Geltung verschaffen können.
Immer noch zu entdecken
Nachdem „Staatseigentum“, die erste deutsche Übersetzung von Nuruddin Farahs „Sweet and Sour Milk“, vor zwanzig Jahren nicht sonderlich beachtet worden ist, bringt der Frederking & Thaler-Verlag den Roman des somalischen Schriftstellers jetzt – neu übersetzt – abermals heraus. Das ist würdig und recht – mit einer kleinen Einschränkung: „Staatseigentum“ war ein aussagekräftigerer Titel als „Bruder Zwilling“.
Denn der unter rätselhaften Umständen gestorbene Politiker Soyaan wird in Farahs Buch tatsächlich zum Staatseigentum gemacht. Weil seine Mutter Qumman einer Autopsie nicht zustimmt, bleibt ungeklärt, ob Soyaan ermordet worden ist oder nicht, auch wenn alles für einen gewaltsamen Tod spricht. Während Loyaan bei seinen Nachforschungen entdeckt, dass sein Zwillingsbruder ein Regimegegner gewesen ist, wird Soyaan zum Helden der Revolution (des Diktators) hochstilisiert. Er bekommt ein Staatsbegräbnis, eine Straße wird nach ihm benannt, und der in Ungnade gefallene Vater, der fälschlicherweise behauptet, die letzten Worte seines Sohnes seien „Arbeit ist Ehre“ gewesen, wird rehabilitiert.
Somalischer Rechtskonsulent in Belgrad
Sechs Tage irrt Loyaan durch die Hauptstadt Mogadischu, auf der Suche nach einem regierungsfeindlichen Memorandum, an dem Soyaan angeblich gearbeitet hat, wird so lange mit dem Staatsterror konfrontiert, bis er auf offener Straße zu rebellieren beginnt und verhaftet wird. Im Kerker bietet man ihm den Posten an, den Soyaan übernehmen hätte sollen: Somalischer Rechtskonsulent in Belgrad zu werden. Man erfährt nicht mehr, ob Loyaan überhaupt zum Flughafen gebracht wird oder einfach verschwindet, wie so viele Somalier vor ihm.Oratur
Während Farah seine anderen Romane immer wieder mit mythischen Tierfiguren, politischen Kommentaren und Exkursen in das prä-islamische Religionsverständnis der frühen Somalier angereichert hat, erzählt er „Bruder Zwilling“ sehr geradlinig – bis auf die Allegorien, welche er den einzelnen Kapiteln voransetzt und welche an die so genannte Oratur gemahnen, also an mündlich überlieferte Legenden, Geschichten und Sprichwörter afrikanischer Völker. Doch während diese Allegorien effektvoll auf das Folgende einstimmen, wirken manche Metaphern im Text oft allzu bemüht. Zum Beispiel: “Eine Sekunde nachdem sie diese schneidende Bemerkung gemacht hatte, genauer, bevor die Guillotine der Sekunde überhaupt auf den tickenden Kopf der Minute herabgesaust war.“In Abwesenheit zum Tode verurteilt
Gleichwohl: Nuruddin Farah, 1945 geborener Exil-Schriftsteller und Universitätsdozent, der Ende der 70er Jahre in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, hat mit „Bruder Zwilling“ – dem erstem Teil seiner Trilogie „Variationen über das Thema der afrikanischen Diktatur“ – einen spannenden verdeckten Kriminalroman geschrieben, der sich gegen Somalias früheren Diktator Siad Barre wendet. Und doch weist das Buch über seinen historischen Schauplatz hinaus: Gezwungen, sich mit Loyaan zu identifizieren, taucht der Leser selbst in eine Lebenssituation ein, in der man niemandem trauen kann, in der man die Wahrheit zwischen Tausenden Lügen und Halbwahrheiten herausfinden muss, während man mit Grausamkeiten konfrontiert wird und ständig damit rechnen muss, ebenfalls gefoltert oder ermordet zu werden.„Bruder Zwilling“ könnte auch in der Gegenwart, in einer anderen Diktatur, auf einem anderen Kontinent spielen. Somit ist das Buch viel mehr als ein Zeitdokument und sollte Farah endlich auch im deutschsprachigen Raum die ihm zustehende Geltung verschaffen können.
Werner Schuster, © Standard, Album (2000)
Infos:
Über Nuruddin Farah [5] bei Wikipedia.